27. Oktober 2008

Unsichtbar

Gestern abend war ich beim Rosenkrieg in Bonn. In der Vorrunde wurde ich dritter, in Halbfinale ganz knapp zweiter (mit einem Punkt Vorsprung!), und obwohl es ein Dreierfinale wurde, konnte ich den zweiten Platz halten. Mein größter Erfolg bisher. In einer der Pausen erzählte dann Claas Neumann von einem Anti-Rassismus Slam in Essen Anfang November. Florian Cieslik erwähnte seine Lesebühne am Freitag abend, diesmal mit dem Thema Monster. Und beide Themen spukten mir dann auf der Rückfahrt durch den Kopf. Zu beidem hatte ich Ideen, und eine davon habe ich dann heute ausformuliert.

Unsichtbar

Hallo. Ich bin's. Erinnerst Du Dich an mich? Damals, als Du noch klein warst, war ich Dein bester Freund. Außer Dir konnte mich niemand sehen, aber das machte nichts. Wir hatten trotzdem viel Spaß zusammen. Ich war immer da für Dich. Ich habe mich mit Dir gefreut, wenn es Dir gut ging, ich habe Dich in den Arm genommen, wenn Du Angst hattest, ich habe Dich gekitzelt und alberne Witze erzählt, wenn Du Aufheiterung brauchtest. Wir haben zusammen Spiele erfunden und ganze Nachmittage damit verbracht, lustige Geräusche zu machen.

Deine Eltern haben es nicht verstanden. Sie konnten mich nicht sehen. Sie konnten mich nicht hören. Sie sagten, Du hättest Dir mich nur ausgedacht. Was soll das denn heißen, nur? Die wussten doch gar nicht, was „ausdenken“ bedeutet. Ausdenken ist ein aktiver Prozess, ein aus-dem-Kopf-heraus-denken. Ideen in Eure Welt hineinzudenken. Und gerade die Phantasie von Kindern ist der fruchtbarste Nährboden für Ideen. In den kleinen Kinderköpfen ist nicht genügend Platz für alle Ideen, und darum denken sie uns aus, in Eure Welt hinein. Und es ist eine perfekte Symbiose. Ihr denkt uns ins Leben aus und füttert uns mit Zuneigung, dafür sind wir Eure Freunde. Und es gibt eine ganze Menge von uns, nicht umsonst steckt das Wort „Nation“ in „Imagination“.

Es war eine schöne Zeit. Wir bauten im Sommer Sandburgen und füllten sie mit Ideen. Im Winter schufen wir Schneemänner und lieferten uns Schneeballschlachten. Du hast meistens gewonnen.

Irgendwann haben uns Deine Eltern dann einen Hamster gekauft. Das heißt, gekauft haben sie ihn eigentlich nur Dir, damit Du auf andere Ideen kommst. Später waren es dann Deine Freunde aus dem Kindergarten, Dein erstes Fahrrad, Deine He-Man Figuren, Dein Gameboy... Und irgendwann dazwischen konntest Du mich nicht mehr hören, irgendwann konntest Du mich nicht mehr sehen, irgendwann hast Du nicht mehr an mich gedacht... Und irgendwann hast Du vergessen, dass es mich jemals gab.

Aber ich war noch da.

Weißt Du, wie das ist, wenn Du körperlos bist, unsichtbar und ohne hörbare Stimme? Wie das ist, wenn Dich niemand mehr beachtet? Wenn Dir keiner mehr Zuneigung schenkt? Das ist die Hölle. Ich wäre fast verhungert, wenn ich mich nicht von der Zuneigung ernährt hätte, die Du in andere Objekte investiert hattest. Deine Kuscheltiere, solange Du noch welche hattest. Deine Lieblingspullis und Comic-Hefte. Später dann Deine Pornos, Deine Wasserpfeife, das war eine harte Zeit. Es war keine reine Zuneigung mehr, die Du in Deinen Besitz stecktest, es waren andere, weniger starke Gefühle. Aber es waren immer noch positiv geladene Gefühle. Irgendwann hörte auch das auf. Ich magerte stark ab. Wurde nur noch zu einem Schatten meines unsichtbaren Selbsts.

Ich begann, mich direkt von Deiner Phantasie zu ernähren. Du hast mir ja keine andere Wahl gelassen. Wenn Du Dir vorgestellt hast, Deinen Chef zu erwürgen, dann hat mir das geholfen. Wenn Du Dir vorgestellt hast, Deine Freundin mit einer anderen zu betrügen, dann hielt mich das am Leben. Aber all das veränderte mich. Meine Zähne wurden spitz, weil ich Dir diese Vorstellungen entreißen musste, weil Du mich nicht mehr freiwillig gefüttert hast. Meine Finger wurden lang und dünn, damit ich die Ideen besser packen konnte. Meine Augen begannen, gelb zu leuchten, weil ich mich unter Deinem Bett versteckte, um näher an Deinen Träumen zu sein. Oh, und Deine Träume... Der Stress in Deinem Beruf und in Deiner Beziehung machte Deine Träume finster, bedrohlich. Aber ich war jetzt selbst bedrohlich, und ich begann, Deine Alpträume genießen zu lernen. Negative Gefühle können genauso reichhaltig sein wie positive. Und es gibt sie so zahlreich.

Heute hast Du selbst Kinder. Und ich muss Dich beglückwünschen, ihre Phantasie ist wirklich köstlich. Ich verstecke mich jetzt unter ihrem Bett. Manchmal komme ich hervor und erschrecke sie, damit sie schlechter schlafen. Denn süße Träume schmecken mir schon lange nicht mehr. Manchmal machen sie sich sogar nass vor Angst. Diese Angst ist köstlich. Manchmal rufen sie Dich oder Deine hässliche Frau um Hilfe. Aber Du kannst mich schon seit Jahren nicht mehr sehen. Nur Deine Kinder können das noch. Und Du glaubst ihnen nicht. Wahrscheinlich kaufst Du ihnen dann bald einen Hamster. Oh, und wenn der dann eines Tages stirbt, dieser Schmerz, den Deine Kinder dann spüren werden...

Da werde ich Monate von zehren können.

Und irgendwann wirst Du dann Enkel haben. Und ich werde unter ihren Bettchen lauern. Und wenn dann eines Tages Du stirbst... Das wird ein Festmahl. Ich freue mich und danke Dir jetzt schon...



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