13. Oktober 2008

Der Geist

Es folgt ein langes Intro zu einer noch längeren Geschichte. Dafür spare ich mir diesmal das Nachwort.

2005 arbeitete ich in einer Berliner Videothek, unter anderem mit einem Kollegen namens Marc. Marc hatte gerade sein Graphikdesign-Studium beendet und brachte immer mal wieder eine Mappe mit seinen Zeichnungen mit. Und verdammt, waren die gut. Stilistisch irgendwo zwischen Jim Mahfood und Scott Morse, mit starkem Grafitti-Einfluss... Ich nahm mir fest vor, irgendwann mit ihm ein Comic auf die Beine zu stellen. Und die Gelegenheit kam dann auch recht bald: Der Independent-Verlag Ronin Studios plante eine Anthologie zum Thema Zweiter Weltkrieg. Denn wie gesagt, es war 2005, und die Kapitulation Deutschlands jährte sich zum sechzigsten Mal. Ich pitchte ein paar Sachen, dabei kam dann heraus, dass es schon zu den meisten Genres Vertreter im Heft gab. Bloß noch nichts zum Thema Horror. Ich beschloss, eine Geistergeschichte zu schreiben. Und ja, an der ist wirklich jedes Detail erfunden, Ähnlichkeiten zu mir und meiner Familie sind nicht vorhanden.
Ich schrieb also eine kurze Geschichte, dampfte sie auf vier Seiten ein (denn den Druck mussten wir selbst bezahlen, aber der Erlös ging zumindest an einen wohltätigen Zweck, Kriegswaisen in Afghanistan, wenn ich mich richtig erinnere) und schickte das Script an Ronin. Nachdem es keine inhaltlichen Einwände gab, drückte ich Marc das Script in die Hand und ließ ihn zeichnen, ich glaube, er hatte einen Monat dafür Zeit. Schon ein paar Tage später hatte ich die erste Seite in der Hand. Und sie war hervorragend, besser als ich es mir vorgestellt hatte. Bald kam die zweite Seite, die ebenfalls recht gut war, irgendwann folgte die dritte Seite, bei der ich ein paar Kleinigkeiten auszusetzen hatte. Ich sagte Marc, was genau mich störte, und er zog ab. Und dann verging einige Zeit. Irgendwann hatte ich Marcs ersten Entwurf für die vierte Seite in der Videothek liegen, aber Marc selbst war völlig von der Bildfläche verschwunden.
Ich schickte die Seiten so, wie sie waren, an Ronin, und die sagten mir ganz klar, dass die Seiten so nicht gedruckt werden könnten. Ich schaffte es, noch etwas Zeit herauszuschinden, konnte aber Marc nicht erreichen. Ich erfuhr, dass er gerade umzog, hatte aber weder seine neue Adresse noch die neue Telefonnummer. Und sein Handy war kaputt oder anderweitig nicht erreichbar. Mir blieb bloß übrig, ihm Nachrichten in der Videothek zu hinterlassen, aber auch da gab es keine Rückantwort, und im Dienstplan tauchte er einige Wochen nicht auf.
Ich weiß immer noch nicht, was Marc damals durchgemacht hat, jedenfalls war dann irgendwann Redaktionsschluss, und die Seiten waren immer noch nicht fertig. Das Heft ging ohne unsere Geschichte in Druck und schaffte es Gerüchten zufolge irgendwann sogar in die Hände von Alan Moore.
Drei Jahre später fragte mich Florian Cieslik, ob ich nicht Lust hätte, als Gast bei seiner Lesebühne Basspoem aufzutreten, ich bräuchte dafür nur Texte von zweimal zehn Minuten. Leichtfertig sagte ich drei Tage vor der Veranstaltung zu. Allerdings hatte ich nicht genug Material. Ich entschloss mich, statt Gedichten einfach mal was anderes vorzulesen, und stieß dabei dann wieder auf das Script von The Ghost. Ich setzte mich an den Computer und schrieb den ganzen Nachmittag. Als ich fertig war, meldete sich Florian noch einmal: "Ach übrigens, das Motto des Abends ist übrigens Herbst." Hervorragend. Ich ließ mich aber nicht beirren und las meine Geschichte einfach trotzdem.

Der Geist

Vor sechs Wochen ist meine Großmutter gestorben. Ich habe seit ein paar Jahren nicht mehr wirklich viel mit ihr zu tun gehabt, aber weh tat das natürlich schon. Ich meine, es lag nicht daran, dass ich sie nicht besuchen wollte, ich hatte ganz einfach zu viel zu tun. Studium, Studium finanzieren (ohne Bafög oder reiche Eltern ist das ziemlich zeitintensiv), und dank meiner Fernbeziehung bin ich wann immer es zeitlich und finanziell ging nach Berlin gefahren, meine Freundin besuchen. Und wenn ich dann wirklich mal die Zeit gehabt hätte, um mich bei meiner Oma zu melden, war mein Kopf immer so voll mit anderem Kram, dass ich in solchen Momenten einfach nicht daran gedacht habe. Und wenn ich mal daran dachte, dann hatte ich immer gerade keinen akuten Grund, oder es war schon zu spät, um sie noch zu stören, oder ich hatte halt eben keine Zeit.
Jetzt ärgere ich mich über jeden Tag, an dem ich sie nicht mal eben so angerufen habe. Ohne Grund, einfach nur so, um zu zeigen, dass es mich noch gibt, dass es mir gut geht und dass ich an sie denke.
Na ja, wie dem auch sei... es stellte sich heraus, dass ich trotz meiner mangelnden Kontaktaufnahme der Alleinerbe war. Das heißt... neben ein paar Bildern, die wohl aus irgendwelchen nostalgischen Gründen an Freunde meiner Oma gingen, Freunde die ich gar nicht kannte. Mein Großvater war gestorben, als ich zwei Jahre alt war, und zu meinen Eltern hatte meine Großmutter schon vorher jeden Kontakt abgebrochen, außer es ging um mich, an Geburtstagen oder Weihnachten. Und seitdem ich bei meinen Eltern ausgezogen bin, wurden selbst diese Anlässe telefonisch abgehandelt, wenn überhaupt.
Nach der Beerdigung bin ich also zum Haus meiner Großeltern gefahren. Ich spare Euch jetzt mal diesen ganzen „ich hätte das Haus und alles sofort hergegeben, wenn meine Oma wieder leben würde“-Krempel. Stimmte zwar, ist aber für die Geschichte völlig unerheblich. Außerdem ist es bei so etwas einfach immer schwer, Klischees zu vermeiden, denn ich glaube, jedem geht es so, wenn er geliebte Familienangehörige verloren hat.
Ich bin also durch das Haus gegangen und habe das ganze Zeug sortiert. Wovon kann ich mich gar nicht trennen, was würde ich gerne behalten wenn der Platz reicht, wofür haben andere Leute bessere Verwendung als ich, und was werde ich nicht einmal mehr auf dem Flohmarkt los? Tja, und auf dem Dachboden habe ich dann diese Kiste gefunden. So eine schwere, alte Holztruhe, von der die schwarze Farbe in großen Stücken abblätterte, bestimmt schon fünfzig, sechzig Jahre alt. Sie war verschlossen, aber den Schlüssel habe ich zusammen mit ein paar anderen Schlüsseln in einem Schuhkarton in der Küche gefunden. Jetzt müsst Ihr wissen: Auf dem Dachboden war es ziemlich warm und stickig. Schlecht durchlüftet, und vor fünfeinhalb Wochen war es ja dann auch noch zumindest etwas wärmer als jetzt. Aber die Kiste, die ich öffnete, hätte genauso gut ein Kühlschrank sein können. Mir kam mit einem Schwall der Geruch von Mottenkugeln entgegen, aber... so kalt. Und als ich dann den Inhalt der Kiste gesehen hatte, war es ganz vorbei. Briefe, irgendwelche Urkunden und Dokumente... und eine Uniform. Und ich weiß nicht, auf wen ich in dem Moment wütender war. Auf meinen Großvater, den ich nie gekannt habe, auf meinen Vater, weil er mir nie etwas erzählt hat, oder auf meine Großmutter, weil sie einen Wärter des Konzentrationslagers Flossenbürg geheiratet hat.
Tja, und seit dem Moment hatte ich dann den Geist am Hals. Und ja, ich weiß, Geister gibt es nicht, blah, blah, mir egal ob Ihr die Geschichte glaubt oder nicht. Tat ich zuerst ja auch nicht. Und eigentlich ist sie ja auch frei erfunden.
Jedenfalls musste das fiktive Ich aus der Geschichte auf den Schreck erst mal an die frische Luft. Wir wissen alle, dass es in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts so einiges an widerlichen Bastarden in Deutschland gab, und natürlich macht es Sinn, dass einige von uns jetzt so ein paar faule Äste in ihren eigenen Stammbäumen haben, aber bisher hatte ich einfach angenommen, der Kelch wäre an mir vorüber gegangen. Ist er aber nicht. Ich ging also vor die Tür, um eine Zigarette zu rauchen. Ich hatte nie im Haus meiner Großeltern geraucht, darum wollte ich jetzt nicht damit anfangen. Jedenfalls gucke ich so durch das Milchglasfenster in die Küche, und da sitzt doch einer am Küchentisch und sieht mich an. Ich schmeiße sofort die Kippe weg und gehe zurück ins Haus, aber der Typ ist weg. Jetzt ist die Küche direkt die erste Tür links, also hätte ich sehen müssen, wenn er da raus gekommen wäre. Und selbst wenn... im Wohnzimmer war die Tür in den Garten zu, die Rollläden waren unten, und das wäre der einzige Weg aus dem Haus gewesen, an mir war er ja nicht vorbeigekommen. Ich habe die Haustür abgeschlossen und danach systematisch das ganze Haus abgesucht. Da war niemand, aber... auf dem Dachboden war die Truhe wieder zu. Ich wusste noch genau, dass ich auf den Schreck alles einfach so liegen gelassen hatte, als ich runter gegangen war. Und jetzt war alles wieder ordentlich. Die Truhe war sogar wieder abgeschlossen. Aber ich wusste, ich war der einzige im Haus. Mit der Ausnahme von diesem Mann am Küchentisch, der ja anscheinend gar nicht da war.
Ich wollte erst mal nur weg. Wahrscheinlich war ich einfach noch von der Beerdigung ein bisschen mürbe, und die Nazitruhe hat mir dann den Rest gegeben.
Ich ging also wieder runter und hab noch eine Zigarette geraucht, um runter zu kommen. Dann hab ich ein paar Sachen für den Sperrmüll ins Auto gepackt – nichts vom Dachboden – und wollte losfahren. Und ich weiß nicht, ich muss irgendwie mit einem Karton gegen den Rückspiegel gekommen sein, jedenfalls war er verstellt. Als ich ihn wieder richtig justieren wollte, sah ich dann wieder den Geist, diesmal auf meinem Rücksitz, zwischen den Kartons. Ich hab mich natürlich sofort umgedreht, aber er war wieder weg. Jetzt fiel mir erst auf, wie kalt es im Wagen war.
In den nächsten paar Tagen habe ich mich erstmal vom Haus meiner Großeltern ferngehalten. Also... von meinem Haus. Daran muss ich mich, glaube ich, noch gewöhnen. Aber der Geist kam immer wieder. Ich wurde mitten in der Nacht wach, und er war fünf Zentimeter von meinem Gesicht entfernt. Oder ich klappte im Bad mein Spiegelschränkchen zu, und er stand direkt hinter mir. Immer still, nicht so ein Gestöhne und Kettenrasseln wie in schlechten Filmen. Einfach nur
so eine schemenhafte Gestalt. Genau konnte ich das Gesicht nicht erkennen, weil es zu verschwommen war und immer etwas waberte. Aber dieser durchdringende Blick war immer klar erkennbar, als würde er direkt in meinen Kopf sehen. Irgendwie anklagend. Und immer diese Kälte. Zum Glück waren gerade Semesterferien, und auf der Arbeit hatte ich wegen der Beerdigung sowieso ein paar Urlaubstage genommen, also bin ich kaum noch aus der Wohnung gegangen, höchstens mal zum Einkaufen oder zur Bank. Und er war immer dabei. Er war dann hinter der Kassiererin oder so und sah mich mit diesem Blick an... Außer mir konnte ihn niemand sehen, aber das wunderte mich irgendwie am wenigsten.
Zu Hause lief die Heizung auf Hochtouren. Im August. Und gebracht hat sie trotzdem nichts. Wann immer er im Raum war, musste ich trotzdem zwei Pullover übereinander anziehen. Geduscht habe ich nur noch in Badehose, weil der Geist jederzeit auftauchen konnte und ich vor meinem toten Nazi-Großvater nicht nackt sein wollte. Und Pornos gingen schon mal sowieso nicht. Aber der Geist teilte mir auch nicht mit, was er wollte, warum er jetzt in meiner Wohnung spukte, oder warum er das nicht all die Jahre zuvor im Haus meiner Oma tat. Ich fragte mich, ob ich ihn wieder in die Kiste bannen könnte, aber wusste nicht, wie. Auf Ansprache reagierte der Geist nicht, und als ich es mit Gläserrücken probierte, glotzte er mich nur mit diesem durchdringenden Blick an. Das Glas bewegte sich keinen Millimeter.
Ich habe dann mal im Internet recherchiert. Aber zu Geistern gibt es da nur jede Menge Unfug von Möchtegern-Experten. Ich bin sicher, die glauben auch an Gläserrücken. Wenn da irgendwer wirklich Ahnung hatte, konnte ich das nicht erkennen. Was das Verbannen von Geistern in Holztruhen anging, war die Suche jedenfalls ergebnislos. Unter dem Namen meines Großvaters habe ich auch nichts gefunden, aber ich konnte mich noch an ein paar Namen und Begriffe aus den Dokumenten in der Kiste erinnern. Und so bekam ich dann ein bisschen was über die ganze Geschichte heraus. Das Lager Flossenbürg war in Bayern, nicht so bekannt wie Auschwitz oder die ganzen anderen Lager, die immer wieder in Filmen und Romanen auftauchen, damit die Autoren sich die ganze Exposition abkürzen können, weil das Publikum eh schon mit dem jeweiligen Lager vertraut ist. Hätte ich vielleicht auch mal machen sollen. Das hätte mir solche Bandwurmsätze erspart.
Wie dem auch sei, ich fand meinen Großvater schließlich auf einem Foto. Er war natürlich sehr jung, aber ich kannte ja andere Fotos von ihm aus der Zeit. Bloß halt bisher keines, auf dem er die Uniform aus der Kiste auf dem Dachboden trug. Oder eines, auf dem er auf einen toten Gefangenen urinierte. Aber solche Fotos zeigt man seinen Enkeln ja auch nicht. Die müssen sie dann schon irgendwann im Internet finden. Mir war schlecht. Den toten Gefangenen fand ich noch auf einem anderen Foto, da dann zusammen mit einem Namen. Der Mann hieß Franz Steinhövel.
Ich schaltete den Computer aus und prompt spiegelte sich der Geist im Monitor, er stand mal wieder genau hinter mir. Er lachte nicht. Er sah mich auch nicht anklagend an, so wie sonst. Sein Blick war nur traurig. Anscheinend bereute mein Großvater seine Tat. Wenn auch 65 Jahre zu spät. Mir war das egal. Ich wollte ihm am liebsten ins Gesicht spucken. Aber er war ja körperlos, und die Spucke wäre eh nur auf meinem Wohnzimmerteppich gelandet, also ließ ich das auch sein.
Ich habe versucht, die ganze Geschichte zu ignorieren, zu vergessen, aber der Geist ließ mich nicht. Ständig sah er mich mit dieser wabernden Fratze an. Widerlich. Es half alles nichts: Ich musste zurück zur Kiste. Ich fuhr also zurück, wieder mit dem Geist auf meinem Rücksitz. Zurück auf dem Dachboden war die Kiste wieder offen, und der Inhalt lag wieder um sie herum verstreut. Alles war so, wie ich es das erste Mal zurückgelassen hatte. Ich dachte kurz darüber nach, die Uniform einem Museum zu spenden, aber ich entschloss mich anders, ging in den Garten und verbrannte sie. Aber es half natürlich nichts. Der Geist wartete schon im Wohnzimmer wieder auf mich. Wäre ja auch zu schön gewesen. Dieser Blick machte mich so langsam wirklich mürbe. Ich traute mich nicht, mich mit Freunden zu treffen, aus Angst, er würde mitkommen und mich entweder bloßstellen oder ihnen womöglich etwas antun. Mit ihnen reden konnte ich auch nicht, denn was sollte ich ihnen schon als Ausrede dafür präsentieren, dass ich nicht mehr aus dem Haus ging, aber auch keinen dort empfangen wollte? Die Wahrheit kam nicht in Frage, die hätte mir doch keiner geglaubt. Ich hatte keine Lust, womöglich noch in irgendeiner Gummizelle zu landen, mit einem stummen Nazigeist als einziger Unterhaltung. Ich musste den Geist also irgendwie loswerden, möglichst bevor ich feststellen konnte, ob mir eine Zwangsjacke steht oder nicht. Mein einziger Anhaltspunkt waren die Unterlagen und Briefe aus der Kiste. Also nahm ich sie mit nach Hause, damit ich sie in Ruhe durchsehen konnte. Der Geist würde mich sowieso nerven, aber zu Hause hatte ich wenigstens meinen Wohnzimmersessel, meine Stereo-Anlage und einen halben Kasten Kölsch. Und das Internet, für den Fall, dass ich irgendwelche neuen Anhaltspunkte aus den Briefen bekäme. Und das tat ich dann auch. In den Briefen hatte mein Großvater diesen Steinhövel erwähnt. Es hatte wohl Gerüchte gegeben, dass seine Frau, eine gewisse Magdalene Steinhövel, in das benachbarte Lager für Frauen eingewiesen worden war. Als Steinhövel versuchte, Kontakt zu ihr aufzunehmen, hat ihn dann mein Großvater erschossen. Von Reue war in den Briefen nichts zu spüren, für ihn war das einfach ein Teil seiner Arbeit. Na ja, das Foto aus dem Internet sagte mir genug. Aber gut, ich hatte jetzt einen weiteren Namen. Mit dem bewaffnet, fuhr ich den Computer wieder hoch. Und siehe da, ich fand Magdalene Steinhövel. Laut Fotos einer Abschiedsfeier auf der Internetseite ihres ehemaligen Schwimmvereins ist sie im März 2007 in ein Seniorenheim in der Eifel gezogen. Das Heim hatte ebenfalls eine eigene Seite. Ich notierte mir Adresse und Telefonnummer.
Eigentlich sträubte ich mich ja dagegen, dort anzurufen. Die arme Frau Steinhövel hatte nun schon genug mitgemacht in ihrem Leben, da brauchte sie mich nicht, der alte Wunden aufreißt. Und ich durfte nicht vergessen, dass der Geist mir auf Schritt und Tritt folgte. Wie würde er reagieren, wenn er Frau Steinhövel sieht? Würde er sie vielleicht sogar angreifen?
Aber die Alternative war, den Geist für immer zu behalten. Und das kam für mich auch nicht in Frage. Abgesehen von den Problemen, die der Geist ohnehin schon mit sich brachte, war der Mietvertrag meiner Wohnung schon gekündigt, also blieb mir nicht mehr viel Zeit bis zum Umzug, und es war noch zu viel zu tun. Ich konnte mich also nicht mehr länger vor dem Dachboden verstecken. Ich hatte ja auch nicht mehr viele Urlaubstage, und außerdem fängt bald das neue Semester an. Weder meine Arbeit noch die FH waren Orte, an denen ich den Geist haben wollte. Und an Berlin wollte ich gar nicht denken.
Nein, ich musste im Seniorenheim anrufen. Ich gab mich als Freund der Familie aus und erfuhr, dass sich Frau Steinhövel eine Lungenentzündung zugezogen hatte. Es war nicht abzusehen, ob sie das nächste Wochenende noch erlebte. Ich entschied mich, zum Krankenhaus zu fahren, solange das noch ging. Auf der Fahrt schien mich der Geist in Ruhe zu lassen. Kein Gesicht im Rückspiegel, und auch die Kälte blieb aus, zum ersten Mal seit ich die Truhe geöffnet hatte. Ich wähnte mich auf dem richtigen Weg. Im Krankenhaus angekommen, sah es schlecht aus. Frau Steinhövel war nicht bei Bewusstsein, der Zustand kritisch. Ich sah sie nur durch das Fenster in ihrer Tür.
Und das Fenster beschlug.
Ich spürte die Kälte, die mittlerweile schon gewohnte Kälte, durch die Tür hindurch. Der Geist hatte Magdalene Steinhövel gefunden. Ich wollte die Tür öffnen, aber der Geist hob die Hand. Die Tür bewegte sich nicht. Ich starrte den Geist an. Das war das erste Mal, dass er den Arm hob, und so sah ich zum ersten Mal die Nummer auf seinem Arm... das war nicht mein Großvater. Das war Steinhövel. Jetzt nahm er eine klarere, fast feste Form an, und ich erkannte das Gesicht. Ja, das war das Gesicht auf dem Foto. Steinhövels Geist ging zu seiner Frau und küsste sie sanft auf die Stirn. Sie öffnete die Augen. Er lächelte. Auch sie lächelte sanft... und starb in Frieden, vereint mit ihrem geliebten Mann.

Und auch ich hatte meine Ruhe gefunden. Den Geist sah ich seitdem nicht mehr.

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