13. Oktober 2008

Trip

Vor fünf Jahren bekam ich meinen ersten Vorgeschmack auf meine aktuelle Fernbeziehung, als meine Freundin für zwei Monate nach Vietnam flog und ich alleine zuhause blieb. Nach dem ersten Langweilen beschloss ich, die Zeit sinnvoll zu nutzen und einen Roman zu schreiben. Doch bald schlug Murphys Gesetz zu und alles, was schief gehen konnte, ging schief. Unter anderem ging der Prozessor in meinem Computer kaputt, auch ein zweiter hielt nicht länger als zwei Stunden durch. Aber jetzt bin ich ja nicht ganz blöd und hatte den Prolog natürlich auf einer Diskette (erinnert sich noch wer?) gespeichert. Und so schrieb ich dann erst einmal auf dem uralten Laptop weiter, den wir gebraucht gekauft hatten. Kurz darauf verschwand die Diskette, unmittelbar danach gab dann auch der Laptop endgültig den Geist auf. Ich hatte keine Lust, alles neu zu schreiben, geschweige denn von Hand.
Als ich dann Jahre später einen neuen Computer hatte, schaffte ich es sogar, die Dateien zu rekonstruieren. Allerdings war ich mittlerweile in einer völlig anderen Stimmung und fand mich einfach nicht mehr in die Gedankengänge hinein, die ich damals hatte, als ich mit dem Buch anfing. Schade.
Aber zurück zu Florian Ciesliks Lesebühne. Ich brauchte ja noch Material für weitere zehn Minuten. Und ich hatte keine Zeit mehr, um noch einmal komplett bei Null anzufangen. Also entschied ich mich, den Prolog zu meinem nie fertiggestellten Buch zu nehmen und massivst umzuschreiben. Der Originaltext war nämlich noch ungeschliffener, noch wirrer und hatte nichts mit Herbst zu tun.
Mit dem fertigen Ergebnis bin ich ziemlich zufrieden, und ich las es danach auch noch einmal bei der Offenen Wunde im Low Budget. Übrigens die Veranstaltung, bei der mich das positive Feedback von freundlichen Menschen veranlasste, diesen Blog hier zu beginnen.

TRIP


Deine Augen schmerzen. Du kannst nichts um Dich herum richtig scharf wahrnehmen, weil Deine Augen versuchen, alles um Dich herum richtig scharf wahrzunehmen - ALLES - jedes Detail - ALLES - jede Kleinigkeit - ALLES - jede Einzelheit - ALLES - alles um Dich herum ist scharf. Du siehst die Flusen auf dem bunten, wollenen Hut des Rastafari am anderen Ende des Waggons, Du siehst den dunklen Haaransatz einer Frau, die sich vor drei Stunden die Haare blondiert hat. Du siehst die exakt sechshundertneunundfünfzig einzelnen Regentropfen, die vom Stoff eines zugespannten Regenschirms abperlen und eine kleine, hässliche Pfütze vor den Füßen des Schirmbesitzers bilden. Deine Augen schmerzen immer noch. Du öffnest die versiegelte Limonadenflasche, die Du vor wenigen Minuten in einem unglaublich überfüllten Supermarkt gekauft hast, mit einem schmatzenden Knacken und setzt sie gierig an den Mund. Durst.

Kurzer Einschub: Die Rechtschreibprüfung meines Schreibprogramms bietet mir für „Limonadenflasche“ übrigens die folgenden Vorschläge:

  • Zitronenlimonade

  • Sprudelflaschen

  • Mischerflaschen

  • Weinflasche und

  • Wärmflaschenkrieg.

Natürlich, das macht ja auch alles deutlich mehr Sinn als «Limonadenflasche». Aber zurück zum Durst. Du trinkst. Du trinkst. Du trinkst. Die süß-klebrige Limonade strömt in Deinen Mund, um durch hektisches Schlucken durch Deine Speiseröhre in Deinen Magen hinab transportiert zu werden. Du trinkst. Du trinkst. Deine Augen öffnen sich und Du siehst eine Kakerlake, die in der Flasche gefangen war - wie ist die denn da reingekommen - wie sie immer näher auf Deinen Mund zuschwimmt, wie sie durch den Sog in ihn hineingezogen wird. Du spuckst das Mistvieh wieder aus und wunderst Dich darüber, dass sie nicht an der Limonadenoberfläche am anderen Ende der Flasche trieb.

Alle sehen Dich an. ALLE SEHEN DICH AN.


Der Zug hält und Du verlässt den Waggon. Du gehst die Rolltreppe hoch und bist Dir sicher, alle Fahrgäste hinter Dir über Dich lachen zu hören. Scheiß drauf. Du hast andere Probleme. Deine Augen schmerzen. Du beeilst Dich, weil Du Deinen Anschlusszug ankommen hörst. Du erreichst das andere Gleis und stellst fest, dass kein Zug gekommen sein kann und dass laut der Digitalanzeige in den nächsten drei Minuten auch gar kein Zug kommen wird. Ein nasser Hund bellt Dich stinkend an. Sein genauso nasses, aber nicht ganz so sehr stinkendes Herrchen ist verwundert, weil der Hund sonst immer vollkommen brav i

st und nie jemanden anbellt, das ist ein ganz lieber. Aber Dich bellt er an als seist Du der Teufel. Bist Du der Teufel? Vielleicht bist Du der Teufel. Deine Bahn kommt. Feuchte, braune Blätter kleben an der Scheibe wie schlaffe Verkehrstote aus dem Reich der Botanik. Teufel. Die Bahn hält. Die Türen öffnen sich. Teufel. Du wirst von dem Gedränge auf dem Gleis in die Bahn hineingedrängt. Teufel. Hoffentlich lassen sie Dich gleich wieder raus. Du musst nur eine Station weit fahren. Teufel. Die Bahn fährt mit einem unregelmäßigen Ruckeln los, das schnell zu einem regelmäßigen Rattern wird.


Ratter.


Ratter.


Ratter.


Ratter.


Ratter.



Wie ein Blitz von der Oberleitung der Straßenbahn trifft Dich eine zugegebenermaßen etwas ungenaue Erkenntnis: Etwas wird passieren. Du spürst es. Etwas wird passieren. Vielleicht wirst Du sterben. Etwas wird passieren. Das Gefühl ist unb

eschreiblich. All Deine Sinne schalten noch einmal einen Gang höher, überladen fast Dein System. Deine Augen schmerzen. Deine Haut fühlt sich plump an, wie die Haut eines Fremden. Wie die Haut eines Toten. Du kannst nichts mehr schmecken, nicht mehr den Nachgeschmack der Limonade, nicht einmal mehr die verfickte Kakerlake. Wo ist eigentlich die Wärmflaschenkrieg hin? Memo: Neues Schreibprogramm besorgen. Du spürst, wie Du schwitzt, doch kein Schweiß dringt nach außen. Etwas wird passieren. Du steigst aus. Du gehst die Treppe hoch und Du weißt: Etwas wird passieren. Dir dringt die kühle und noch immer etwas feuchte Herbstluft entgegen. Argwöhnisch beäugst Du die vorbeifahrenden Autos. Vielleicht wird eines nicht bei rot halten und Dich überfahren, während Du in Deiner Grünphase die Straße überquerst? Etwas wird passieren. Vielleicht mac

hen Deine Lungen schlapp? Wie viele von Deinen billigen Menthol-Zigaretten hast Du heute geraucht? Zu viele. Etwas wird passieren. Vielleicht hält das auch Dein Herz nicht mehr aus und Du stirbst einen qualvollen Tod, zitternd und zappelnd auf dem regennassen Asphalt. In Deinem noch immer andauernden Anflug von visuellem Autismus nimmst Du jedes Detail Deiner Umgebung gleichzeitig wahr und kannst die einzelnen Informationen nicht mehr nach Wichtigkeit sortieren. Baum ohne Blätter. Mann mit aufgespanntem Regenschirm. Baum mit ein paar einzelnen braunen Blättern. Grell angeleuchtete Reklameschilder eines Supermarktes. Dicke Frau mit rosa Pudel. Wo kommt die denn her, die hattest Du doch das letzte Mal vor drei Stunden gesehen, am anderen Ende der Stadt und danach nicht mehr. Nein, doch nicht, ist erst wenige Minuten her, die saß mit Dir in der U-Bahn und war Zeugin Deines

Kakerlakenunfalls. Dein Zeitgefühl hat sich schon vor einer ganzen Weile verabschiedet, aber wann? Der surreale rosa Hund ist ruhig, er bellt nicht, er knurrt nicht. Vielleicht bist Du doch nicht der Teufel. Du hörst drei Häuserblocks entfernt ein Handy klingeln. Deine Nackenhaare richten sich auf. Etwas wird passieren. Wäre das ein Film, würde alles anfangen, sich zu drehen, doch das tut es nicht, denn es ist kein Film. Die Wolken reißen kurz auf, gerade weit genug, damit Dir die Sonne direkt ins Gesicht scheinen kann, was sie natürlich auch sofort tut. Deine Laune hebt sich nicht. Deine Augen schmerzen. Wieder dieses Handyklingeln. Verdammt, geh doch endlich ran. Handyklingeln. Das Geräusch bohrt sich in Dein Gehirn, penetriert Deine Synapsen und beißt sich in Deinen Schmerzzentren fest. Irgendein billiges Pop-Geträller aus Deinem Radiowecker heute morgen bohrt sich zurück

in Deinen Gehörgang wie ein Ohrwurm aus dem vierten Kreis der Hölle. Deine Augen schmerzen. Ohrwurm. Du entscheidest Dich, noch eine Menthol-Zigarette zu rauchen. Ohrwurm. Die Ampel schaltet auf grün, während Du noch Dein Feuerzeug herauskramst. Ohrwurm. Du bist unbeschreiblich müde. Ohrwurm. Halbkahler Baum. Nasses Straßenschild. Kirchturm. Baum. Ampel. Grün. Grün? Grün. Du betrittst die Straße und die Ampel springt sofort auf rot um. Jetzt wird es passieren. Jetzt gleich fährt eines der wartenden Autos zu früh los und nimmt Dich einige Meter auf der Kühlerhaube mit, bevor Du unter die dreckigen, nassen Räder gerätst und Deine Menthol-Zigarette den Tank in Flammen aufgehen lässt.

Die daraus resultierende Explosion wird noch drei Häuserblocks entfernt zu hören sein und der Scheißkerl mit dem Handy wird vor Schreck verstummen, weil ihm

die Boulevard-Presse eingetrichtert hat, dass an jeder Ecke islamistische Terroristen warten, die sich mit Freuden selbst in die Luft sprengen würden, bloß um seinen haarigen Protestantenarsch mitzunehmen und seine Eingeweide bis nach Mekka zu blasen. DEINE Eingeweide werden nicht weit fliegen, denn sie werden vorher vom Feuer geröstet. Deine Haare werden sich kräuselnd zusammenziehen und stinken. Deine schicke und viel zu teure Schweizer Plastikarmbanduhr wird mit Deinem Handgelenk verschmelzen. Deine Augen werden ein letztes Mal brennen und danach nie wieder – für immer. Du erreichst die andere Straßenseite, die Ampel für die Autos springt auf rot/gelb um. Du fühlst Dich schweißgebadet, aber Du bist knochentrocken – und nebenbei unversehrt auf der anderen Straßenseite angekommen. Wie hast Du das trotz Deiner hundertprozentig zuve

rlässigen, vollkommen planlos selbst aufgestellten Prophezeiung überlebt? Glück? Zufall? Schicksal? Die Hand Gottes? Dann kannst Du nicht der Teufel sein. Aber was, wenn Du der Teufel bist und Dich Gott nur in falscher Sicherheit wiegen will? Jahaaa, einen Humor hat der, göttlich... Aber nicht mit Dir. Du drehst Dich auf dem Absatz herum und gehst wieder zurück auf die Straße, dem Verkehr und allen roten Ampeln dieser Welt zum Trotz. Entweder Du bist der Teufel, dann können Dir die Autos nichts. Oder Du bist nicht der Teufel, in dem Fall wird Gott seine Hand über Dich halten und Dich beschützen. Wenn Du es eben bei gerade-noch-grün geschafft hast, dann jetzt bei schon-lange-rot doch erst recht, ist doch logisch. Der zuckerwattefarbene Pudel bellt. Das Handy klingelt wieder - verdammt, geh doch endlich ran, Du Wichser! Deine Augen schmerzen. Die Stoßsta

nge eines Golfs bricht Dir mit einem schmatzenden Knacken Deine Unterschenkel. Sekundenbruchteile später knallt Dein Schädel gegen die regennasse Windschutzscheibe, ein Scheibenwischer bohrt sich in Dein rechtes Auge und sucht sich abenteuerlustig, aber doch zielsicher seinen Weg durch Deinen Kopf. Du kannst durch Deinen eigenen Kopf hindurchgucken. Deine Augen schmerzen. Deine immer noch glühende Zigarette rollt dem immer noch kläffenden Pudel vor die immer noch rosanen Vorderpfoten. All Deine Sinne sind noch immer bis auf's äußerste geschärft. Es ist wie ein schlechter Trip, dabei hast Du niemals Drogen genommen. Außer Deinen Menthol-Zigaretten, natürlich. Wieso rauchst Du eigentlich noch immer? Guns don't kill people, cigarettes kill people. Zeit, mit dem Rauchen aufzuhören. Für immer. Du rutschst von dem Scheibenwisc

her in Deinem Kopf herab und fällst auf die von kleinen, braunen Blättern übersäte Straße.


Deine Augen schmerzen.



Nachtrag, 11.12.2008
Weil der Pretty Poetry Slam vorgestern in Düsseldorf spontan zu einer Lesebühne umfunktioniert wurde, ließ sich Kassenwart Janosch Jauch von Moderator Denis Seyfarth dazu überreden, zu einigen der vorgetragenen Texte Illustrationen anzufertigen. Das Ergebnis siedelt sich irgendwo zwischen Ralph Steadman und Fil an und sieht so aus:

Vielen Dank noch einmal. War ein großartiger Abend.

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