21. März 2009

Glaubenskrise

Und der zweite SF-Text für den Slam heute abend.

Glaubenskrise

Bruder Benedikt war zwar gläubig, aber nicht dumm. Er wusste, dass die Welt nicht in sieben Tagen entstanden war. Er wusste, dass der Mensch nicht aus Lehm geformt wurde, sondern die Evolution den Homo Sapiens vom Einzeller über den Mehrzeller, über den Quastenflosser, die ersten Säugetiere und so weiter entwickelt hatte. Aber das hieß ja nicht, dass Gott nicht dahinter steckte. Immerhin gab es in der Evolution ja enorme Sprünge. Der am besten angepasste Organismus gibt sein Erbmaterial weiter. Aber wer, wenn nicht Gott, sorgte denn dafür, dass einzelne Organismen plötzlich besser angepasst waren? Dass sich so hochkomplizierte Gebilde wie ein Auge oder der Gleichgewichtssinn über zahllose Generationen hinweg entwickeln, lange bevor sie funktionieren und der Träger der jeweiligen Gene einen Vorteil durch sie erlangt? Wer, wenn nicht Gott, hat uns denn die Fähigkeit gegeben, miteinander zu kommunizieren und unser Wissen auszutauschen? War die Seele Teil der natürlichen Selektion?

Nein, für Bruder Benedikt war eins klar: Auch wenn die frühen Kapitel der Bibel teilweise eher metaphorisch aufzufassen sind und mit den begrenzten wissenschaftlichen Mitteln der damaligen Zeit Antworten auf Fragen nach der Entstehung der Erde oder der einzelnen Arten bieten sollten, so zweifelte er nicht an der Wahrheit der späteren Bücher der Bibel. Er glaubte, dass Gott Moses half, sein Volk aus der Sklaverei in Ägypten zu befreien und zum gelobten Land zu führen. Dass er zu Jonas, Jeremiah und Jesaja sprach. Dass er sich selbst als seinen Sohn zu uns schickte und opferte, um die Sünden der Menschen auf sich zu nehmen. Auch wenn Gott uns nicht wie einen Golem aus Ton formte, oder aus einer Rippe, so sind wir doch seine Kinder, nach seinem Bild erschaffen. Die Krone der Schöpfung.

Man kann sich also Bruder Benedikts Verwunderung vorstellen, als er eines Tages im Klostergarten ein metallenes Ei von der Größe eines Kleinwagens fand. Es war glatt und völlig gleichmäßig, Benedikt konnte keine Spalten, Scharniere oder Schrauben erkennen. Und doch teilte es sich in zwei Hälften wie eine Kinderüberraschung, als Benedikt vorsichtig näher kam. Der Inhalt des Objektes machte es nicht besser: Ein Lebewesen mit großem, halb durchsichtigen Kopf und zahllosen kleinen Tentakeln wie eine Qualle. Es hatte drei riesige Augen, gleichmäßig um den Kopf herum verteilt, und blinzelte ihn an. Auf der Ei-Innenseite leuchteten diverse Lichter und Bildschirme.

Bruder Benedikt blieb stehen. Er legte vorsichtig seinen Rechen zu Boden, damit das Wesen diesen nicht für eine Waffe hielt. Dann machte er das Kreuzzeichen, räusperte er sich und wandte das Wort an sein groteskes Gegenüber.

"Kannst Du mich verstehen?"

Das Wesen reagierte nicht, blinzelte ihn bloß weiter an. Dann streckte es seine Tentakel aus und berührte damit unterschiedliche Schaltflächen.

"Mein Name ist Benedikt. Wer bist Du, und wo kommst Du her?"

Es brauchte noch ein paar Minuten, bis das Raumschiff genügend Sprachdaten von Benedikt gesammelt hatte, um rudimentär dolmetschen zu können. Dazu wandelte es Benedikts Fragen in Farben um, die einer der Monitoren anzeigte. Das quallenartige Wesen antwortete, indem sein Kopf in unterschiedlichen Farbtönen leuchtete, was das Schiff wiederum in für Benedikt verständliche Sprache umwandelte.

NAME IST [unübersetzbar]. KOMME VON PLANET [unübersetzbar]. KOMME IN FRIEDEN. TEIL EINER GRUPPE WISSENSCHAFTLER. ZIEL NEUE PLANETEN FINDEN. DENN [unübersetzbar] ÜBERBEVÖLKERT. TELESKOP SAH DEINEN PLANET. EIN GROSSES LAND, REST WASSER, MÜSSEN NICHT [unübersetzbar]FORMEN. 300 MILLIONEN LICHTJAHRE MIT RAUMKRÜMMUNG ÜBERBRÜCKT. PLANET SIEHT AUS NÄHE UNERWARTET AUS.

Benedikt überlegte.
"Wenn Dein Planet 300 Millionen Lichtjahre entfernt ist, dann haben Eure Teleskope 300 Millionen Jahre alte Bilder eingefangen. Das war ja noch vor den Sauriern!"

VERÄNDERUNGEN MIT EINGERECHNET, AUSMASS HAT TROTZDEM ÜBERRASCHT. KEIN ANDERER BEKANNTER PLANET HAT SICH SO SCHNELL ENTWICKELT WIE… ERDE. ERDENSPEZIES MACHT SCHRITTE INS ALL. HINTERLASSEN DABEI SCHROTT. ALTE TREIBSTOFFTANKS, SATELLITEN… BEI WIEDEREINTRITT AUS HYPERRAUM WURDE DAVON SCHIFF BESCHÄDIGT. KONNTE MIT RETTUNGSKAPSEL MEIN LEBEN RETTEN. BRAUCHE HILFE. BRAUCHE WASSER.

Benedikt griff nach der Gießkanne und lief zum Klosterteich. Dort angekommen, füllte er die Kanne mit Wasser und machte sich auf den Rückweg. Erst jetzt erholte er sich langsam von seinem Schock und zählte zwei und zwei zusammen. Ein außerirdisches Lebewesen. Ein Wesen von einem anderen Planeten, mit Bewusstsein, mit der Fähigkeit zu kommunizieren. Und technisch weitaus fortgeschrittener als Menschen. Aber wie kann das sein? Hatte Gott uns nicht nach seinem Ebenbild erschaffen? Sind wir nicht seine geliebten Kinder? Aber wer waren denn dann die? Und davon mal abgesehen: Was wird denn passieren, wenn es bekannt wird, was hier im Klostergarten gelandet ist?
Dies war eine zynische Welt, und es gab kaum noch Menschen, die an Gottes Liebe glaubten. Im Vatikan wurden schwer nachvollziehbare Entscheidungen getroffen. Wenn jetzt bekannt würde, was Bruder Benedikt hier gefunden hat, gäbe es erst recht eine weltweite Glaubenskrise. Die Bibel erwähnt kein Leben auf anderen Planeten, also würde die breite Masse vermutlich einen Widerspruch sehen. Und in der aktuellen Zeit könnte das ein Widerspruch zuviel sein. Er musste den Außerirdischen irgendwie loswerden, bevor ein anderer Bruder ihn fand und womöglich die Medien verständigte.
Er holte eine Bibel aus seinem Habit und schlug wahllos eine Stelle auf. Eine liebgewonnene Gewohnheit in Situationen, in denen Benedikt nicht weiterwusste.

Psalm 139, 19 bis 22
19Ach Gott, dass du den Gottlosen tötetest und die Blutgierigen von mir weichen müssten! 20Denn sie empören sich arglistig wider dich; deine Feinde erheben ihre Hand zur Lüge. 21Sollte ich nicht hassen, die dich, HERR, hassen, und keinen Abscheu empfinden vor deinen Widersachern? 22Ich hasse sie mit vollkommenem Hass, sie sind mir zu Feinden geworden.

Wie konnte dieses groteske Geschöpf ein Werk Gottes sein?
Er leerte die Gießkanne auf dem Rasen. Dann ging er zu dem kleinen Schuppen, in dem in den Wintermonaten der Grill gelagert wurde, um das Wasser in der Kanne mit flüssigem Grillanzünder zu ersetzen. "Du sollst nicht töten" bezog sich auf Menschen, nicht auf Tiere, folglich auch nicht auf dreiäugige Quallen aus dem Weltall.
Er sprach noch ein Gebet und ging zurück zum Raumschiff. Mit Tränen in den Augen übergoss er das Wesen mit dem Inhalt der Kanne. Er wollte es nicht tun, aber es war der einzige Weg. Das Wesen leuchtete in den kräftigsten Farben.

NEIN. NICHT. [Unübersetzbar], HILFE!

Benedikt griff nach der Spitzhacke und erschlug den Besucher. Dieser blinkte noch einmal in den lautesten Farben auf und wurde dann langsam blass. Der Bordcomputer übersetzte sein Todesröcheln:

GLAUBE AN [Unübersetzbar], VATER, ALLMÄCHTIG. SCHÖPFER VON HIMMEL UND [Unübersetzbar]. UND AN [Unübersetzbar], SEINEN EINGEBORENEN SOHN, UNSEREN HERRN…

16. März 2009

Zwischen den Zeilen

Am 21.03. ist in Dortmund ein Poetry-Slam mit dem Thema "Science-Fiction". Und weil sich mein Umzug nach Berlin (voraussichtlich für insgesamt ein halbes Jahr oder so) noch ein bisschen verschiebt, werde ich da wohl antreten. Also habe ich zu dem Thema eine Kurzgeschichte geschrieben. Das aktuelle Hauptproblem ist, dass die Geschichte noch ein wenig lang ist. Mal sehen, vielleicht lässt die sich ja in zwei Hälften splitten. Egal, hier erst einmal die Rohversion:


Zwischen den Zeilen

Als Dominik Rakers auf dem Heimweg vom Schützenverein diese Uhr fand, ahnte er noch nicht, dass sie sein komplettes Leben verändern, ja, sogar letztlich beenden würde. Es war eine etwas altmodische Uhr, allem Anschein nach in den achtziger Jahren entstanden. Ein überdurchschnittlich großes Zifferblatt, ein Armband aus billigem Metall, und ein Ring um das Ziffernblatt herum, der Tauchern für gewöhnlich anzeigen soll, wie lange sie unter Wasser sind. Dominik hätte die Uhr besser liegenlassen, oder besser noch, zerstören sollen. Aber unwissend wie er war, hielt er den Fund für einen Glücksfall. Mit einem stolzen Grinsen band er sie um sein Handgelenk und hielt dieses an sein Ohr. Die Uhr tickte leise, aber regelmäßig. Dominik ging pfeifend nach Hause.

Im Flur glich er die Uhrzeit mit der auf seiner Funkwanduhr ab. Sie stimmte auf die Sekunde. Dominik ging in die Küche und setzte einen Topf mit Wasser für Spaghetti auf den Herd. Er stellte die Küchenuhr auf sechs Minuten, ging ins Wohnzimmer und nahm auf der Couch Platz. Erneut fiel sein Blick auf seine neue Armbanduhr. Eigentlich ein hässliches Ding, aber einem geschenkten Gaul schaut man ja nicht ins Maul. Seine Finger fanden den Weg zu diesem Ring auf der Uhr. Etwas geistesabwesend drehte er ihn ein Stück im Uhrzeigersinn. Durch den Gestank, der plötzlich aus der Küche drang, fiel ihm nicht auf, dass die Zeiger der Uhr ihre Karussellfahrt beschleunigten, oder dass der Ring wie durch eine Feder wieder auf die Ausgangsposition zurückschnappte.

Er raste in die Küche, der Nudeltopf war leer, vom Boden stieg ein beißender Rauch auf. Wie konnte das Wasser so schnell verkochen, er war doch keine zwei Minuten nebenan? Die Küchenuhr stand wieder auf Null und hatte doch nicht geklingelt… Er sah auf die Armbanduhr – er hatte eine dreiviertel Stunde verloren. Dominik nahm den Herd vom Topf, stellte ihn in die Spüle und drehte das heiße Wasser auf. Es zischte und qualmte. Der Topf war nicht mehr zu retten. Merkwürdig. Er schaltete den Herd aus und den Fernseher ein. Der Lotto-Jackpot war geknackt, aber der Gewinner hatte sich noch immer nicht gemeldet.

In der Nacht schlief Dominik nur schlecht, der Geruch des angebrannten Topfes hing immer noch in der Luft. Am nächsten Morgen überhörte er den Wecker und verließ das Haus eine halbe Stunde zu spät. Er eilte zur Bushaltestelle, blieb aber mit dem linken Arm an der Haustür hängen. Mit der rechten Hand befreite er die linke und merkte dabei gar nicht, dass er dabei wieder an den Ring seiner Uhr griff und diesen ein kleines Stück gegen den Uhrzeigersinn drehte. Auch nahm er nicht die Person wahr, die hinter dem Auto seines Nachbarn hockte und ihn beobachtete.

Erneut schnappte der Ring unbemerkt zurück, erneut drehten sich die Zeiger – diesmal verkehrt herum. Dominik erreichte die Bushaltestelle und sah auf die Uhr. Er war zwei Stunden zu früh dran. War die Armbanduhr jetzt doch kaputt? Nein, ein Blick auf die Handyuhr bestätigte die Zeit. Ebenso die Kirchturmuhr auf der anderen Straßenseite. Dominik ging etwas ratlos zurück nach Hause, jetzt war ja doch noch Zeit für ein längeres Frühstück. Doch aus dem Schlafzimmer hörte er ein Schnarchen. Auf Zehenspitzen schlich er hinein, aber dort im Bett – lag er selbst. Er versuchte, sein schlafendes Ich zu wecken, aber ohne Erfolg.

Der wache Dominik schaltete den Wecker aus und setzte sich neben das Bett, um abzuwarten, was passiert. Doch er verlor die Geduld und ging in die Küche, um sich einen Apfel zu holen. Als er zurückkam, war das Bett leer, dafür drang das Geräusch von fließendem Wasser aus dem Bad. Dominik biss in den Apfel und verließ die Wohnung. Er wollte eine direkte Konfrontation jetzt doch vermeiden und sich zunächst einmal weiter beobachten. Das ganze war doch bestimmt sowieso ein Traum, und da sind solche plötzlichen Sinneswandel doch ganz normal.

Er duckte sich hinter das Auto vor der Wohnungstür und wartete. Siehe da, der andere Dominik verließ das Haus – und blieb mit dem Ärmel in der Haustür hängen. Déjà Vu. Dominik 1 beobachtete, wie Dominik 2 an sein Handgelenk fasste und dabei an der Uhr drehte – und verschwand. Dominik rechnete zwei und zwei zusammen: Er war jetzt doch wieder zu spät zur Arbeit. Es sei denn… Er sah auf seine Uhr. Er nahm den nächsten Bus zum Büro. Dort angekommen, sah er seine Uhr an. Er spielte damit herum. Er drehte den Ring im Uhrzeigersinn. Die Zeiger rasten vorwärts, und es dämmerte im Zeitraffer. Dominik drehte den Ring zurück – und sah zu, wie sich die Zeiger rückwärts bewegten – und die Zeit gleich mit. Dominik war noch nie so pünktlich wie heute. Mit einem Lächeln auf den Lippen betrat er das Firmengebäude. Er begann, die Möglichkeiten zu erkennen, die ihm die Uhr bot. Nach Feierabend fuhr er nach Hause und spulte wieder zum Vormittag zurück. Mit der Uhr hatte er jetzt soviel Freizeit wie er wollte. Mal was anderes… Er drehte den Ring bis zum Anschlag nach vorne. Mal schauen, was die nächsten Jahre so passiert. Es wurde dunkel und wieder hell, dunkel, hell, immer und immer schneller. Irgendwann ließ er los und sah, wie der Ring zurückschnappte. Er sah von der Uhr auf – und in den Lauf einer futuristisch anmutenden Handfeuerwaffe. Sein Instinkt übernahm, und er entwaffnete den alten Mann, der ihm gegenüberstand, im Handumdrehen. Wortwörtlich. Er richtete die Waffe auf den Großvater. Doch der zog blitzschnell eine weitere Pistole und richtete sie auf Dominik. Dominik drückte ab, ein-, zweimal. Der alte Mann ging zu Boden. Auch er drückte ab, aber die Pistole klickte nur.

"Die Waffen – ich habe sie verwechselt. Aber wie…?" Blut lief aus seinem Mund, und er regte sich nicht mehr. Dominik sah sein Gegenüber genauer an. Dieses Muttermal auf der linken Wange kannte er doch. Das Bild, dass ihm täglich aus jedem Spiegel entgegensah, trug das gleiche auf der rechten.

Er zog dem alten Mann das Hemd hoch: Tatsächlich, die Narbe seiner Blinddarm-Operation. Er hatte gerade sich selbst getötet. Er sah sich um. Doch, das war immer noch seine Wohnung. Viel moderner und um einiges teurer eingerichtet, aber unverkennbar sein Stil. Er schaltete den riesigen Flatscreen-Fernseher ein, den er sich offenbar irgendwann kaufen würde und schaltete auf einen Sender mit Nachrichten. Laut dem Datum in der oberen rechten Ecke war er achtundvierzig Jahre in die Zukunft gereist. In achtundvierzig Jahren würde er sterben. Er griff an seine Uhr und reiste zurück. Immerhin hatte er jetzt achtundvierzig Jahre Zeit, seinen Tod zu verhindern.

Wieder zuhause, ging Dominik seine Optionen durch. Er musste die Zeit ändern. Aber kann man das überhaupt? Er wagte ein Experiment. Er spulte bis zum letzten Samstag zurück und betrat ein Lotto/Toto-Geschäft. Er schnappte sich einen Lottoschein und füllte ihn aus. Die Zahlen kannte er, denn die Ziehung in ein paar Stunden hatte er bereits vor ein paar Tagen gesehen. Die Quittung nahm er mit nach Hause. Jetzt müsste er sie nur noch so hinterlegen, dass sein jüngeres Ich sie findet. Er klebte den Zettel mit Tesafilm an seinen Badezimmerspiegel. Dann reiste er wieder zurück in die Gegenwart. Die Wohnung war unverändert. Er sah über das Internet nach seinem Kontostand. Im Minus, aber noch innerhalb seines Dispo-Rahmens. Sollten da nicht mehrere Millionen draufsein? Er ging zurück ins Badezimmer. Keine Quittung. Allerdings… war an der Stelle, an die er das Tesafilm geklebt hatte, nicht weniger Staub als darum herum? Er suchte das Badezimmer ab. Und siehe da: Unter dem Waschbecken fand er die Quittung. Der Kleber hatte scheinbar nicht gehalten, und der Zettel hatte sich abgelöst. Dadurch hatte sein jüngeres Ich ihn nicht gefunden. Aber… die Quittung war ja noch immer gültig. Er ging zum Lottoladen. Und gewann den Jackpot. 15 Millionen Euro. Und achtundvierzig Jahre Zeit zum Geldausgeben. Aber hatte er eigentlich etwas geändert? Schwer zu sagen. Vage fiel ihm die Nachrichtenmeldung vom Vorabend ein. Der Jackpot sei geknackt, der Gewinner habe sich aber noch nicht gemeldet. War er zu diesem Zeitpunkt bereits der Gewinner? Hatte er sich bloß nicht gemeldet, weil er die Quittung nicht auf dem Badezimmerfußboden gefunden hatte? Wenn er nicht zurückgereist wäre… hätte es dann überhaupt einen Jackpotgewinner gegeben? Er griff zu seiner Uhr und reiste wieder zu Samstag zurück, an einen Moment, kurz nachdem er die Quittung an den Spiegel geklebt hatte. Und siehe da: Sie war noch dort. Er zog sie ab und ging in die Küche, um sich einen anderen Ort dafür auszusuchen. Er klebte die Meldung an den Kühlschrank. Hier musste sie ins Auge fallen. Er drehte sich herum… und sah sich selbst. Okay, das ist der Beweis. Er konnte sich nicht daran erinnern, sich selbst in der Küche getroffen zu haben, also musste diese Szene neu sein.

"Bevor Du Dich erschrickst, keine Sorge. Ich bin Du. Du bist ich. Ich bin aus der Zukunft gekommen, um Dir diesen Lottoschein zu g…"

"Halt die Klappe, das weiß ich alles selber. Das Wir von jetzt gerade ist nicht zuhause. Und ich bin ein halbes Jahr älter als Du. Hör zu. Du kannst hier gerne noch ein bisschen rumprobieren, aber eines habe ich festgestellt. Wir können die Zeit nicht verändern. Was geschehen ist, ist geschehen, wir erinnern uns ja daran. Und die Zukunft, die wir uns ansehen, wird genauso passieren. Wenn Du versuchen würdest, Hitler als kleines Kind zu töten, würde es nicht funktionieren. Denn Hitler hätte jedes Attentat überlebt. Er wurde erwachsen, er wurde Reichskanzler und GröFaz und riss halb Europa ins Verderben. All das ist wirklich passiert und steht in den Geschichtsbüchern. Es gibt genügend Zeitzeugen von damals, die sich genau daran erinnern. Daran gibt es nichts zu rütteln. Wenn Du versuchst, ihn zu erschießen, würde Deine Waffe klemmen, oder die Patronen wären nicht in Ordnung. Du kannst die Geschichte nicht verändern. Denn von der Gegenwart aus ist sie ja bereits geschehen. Das bedeutet aber auch, dass alles, was Du bei einer Reise in die Vergangenheit tust, bereits geschehen ist. Und wenn man das ganze jetzt aus der Zukunft betrachtet, dann ist die Gegenwart bereits geschehen. Ändern kannst Du nur, woran sich niemand erinnern kann. Das, was zwischen den Zeilen der Geschichtsbücher steht. Wie der Lottogewinn. Es gab einen Gewinner, und das waren schon immer wir. Und der hat sich nicht gemeldet, weil wir es noch gar nicht wussten. Jeder Versuch, das zu verändern, wird scheitern. Denn hätten wir den Zettel vor der Uhr hier gefunden, dann würden wir zwei uns doch daran erinnern. Und würdest Du jetzt bis Montag springen und es dann versuchen, würde es auch nicht klappen. Vielleicht ist die Lottoannahmestelle geschlossen, oder Du würdest auf dem Weg dorthin von einem Auto angefahren und ins Krankenhaus gebracht, bis der Laden zu ist. Denn hätte ich den Zettel eingelöst, würden wir uns nicht an die Nachrichtenmeldung erinnern, der Gewinner habe sich noch nicht gemeldet."

"Aber… was ist denn dann mit freiem Willen?"

"Oh, Du kannst Dich entscheiden, wie Du willst. Aber Du kannst nur so wollen, wie es das Schicksal will."

"Schopenhauer. Der Mensch kann tun, was er will, aber nicht wollen, was er will."

"Korrekt. Mit anderen Worten: Du kannst nichts ändern, von dem Du weißt, das es bereits passiert ist. Du kannst die Lottoquittung nur zurück unter das Waschbecken legen, damit Du sie am nächsten Mittwoch finden konntest. Und in einem halben Jahr wirst Du ich sein und an diesen Punkt in der Zeit zurückkehren, um mit Deinem jüngeren Selbst diesen Dialog zu führen."

"Zeitreisegrammatik ist kompliziert. Aber was heißt das für unser Problem?"

"Alles, woran Du Dich erinnerst, ist bereits geschehen. Und das schließt eben leider auch den Teil der Zukunft ein, an den Du Dich erinnerst. Du hast also achtundvierzig Jahre Zeit, um 15 Millionen auszugeben. Aber sieh es positiv: Du weißt jetzt, wann Du stirbst. Das heißt auch, dass Du nicht vorher sterben kannst. Du gewinnst jede Runde Russisches Roulette. Du bist immun gegen alle tödlichen Krankheiten. Du wirst jeden Autounfall weitestgehend schadenfrei überleben."

"Weitestgehend?"

"Na ja, hast Du unser altes Ich auf irgendwelche Glasaugen, Beinprothesen oder so etwas untersucht?"

"Ich verstehe."

"Nein, noch nicht. Daran würde ich mich erinnern. Aber Du fängst langsam an, zu verstehen. Und in den kommenden Wochen und Monaten wirst Du immer mehr herausfinden, bis Du zu dem Wissensstand kommst, den ich habe."

"Hmmm… okay. Hey, solange wir noch hier sind… Lust auf eine Partie Schach? Du wärst endlich mal ein gleichwertiger Gegner."

"Nein, wäre ich nicht. Ich wüsste jeden Deiner Züge, weil ich ihn selbst schon gemacht hätte. Mach's gut."

Und der ältere Dominik drehte an seiner Uhr und verschwand.

Achtundvierzig Jahre später. Dominik hatte ein langes und erfülltes Leben. Er hatte noch noch ein paar Mal im Lotto gewonnen, immer kleinere Beträge, damit es nicht auffiel. Er hatte äußerst gewinnbringend am Aktienmarkt spekuliert und ein Vermögen gemacht. Jahrzehnte lang hatte er das Leben in vollen Zügen genossen, hatte mit Drogen und Frauen experimentiert und alle Extremsportarten durchprobiert, die es gab. Doch je näher es auf seinen Todestag zuging, desto mehr Angst hatte er vor dem Tod. Und er begann, sich zu fragen, warum er überhaupt mit den Pistolen herumhantiert hatte, beziehungsweise herumhantieren wird. Sein künftiges Ich hätte doch ebenfalls wissen müssen, dass er als junger Mann auf einer Zeitreise sich selbst in vermeintlicher Notwehr töten würde. Sein jüngeres Ich hätte er doch gar nicht töten können, sonst hätte es ihn selbst doch gar nicht gegeben. Und eines Tages kam ihm die Idee.

Er steckte die eine Pistole ein, und wartete, mit der anderen Pistole auf den Punkt in seinem Wohnzimmer zielend, an dem sein jüngeres Ich sich gleich materialisieren würde. Der junge Dominik erschien, den Blick auf seine Uhr gewandt. Er sah sein älteres Selbst an, unwissend, wer ihm da gegenüberstand. Der alte Dominik wehrte sich nicht, als der junge ihm die Waffe entriss. Er hatte einen Plan. Er griff nach der zweiten Waffe und drückte ab. Klick. Klick. Der Junge schoss.

Der Alte ging zu Boden: "Die Waffen – ich habe sie verwechselt. Aber wie…?"

Dann zerbiss er die Blutkapsel, die er in der Wange versteckt hatte.

Der Junge untersuchte sein künftiges Selbst flüchtig und verschwand. Der Alte nahm die "Tatwaffe", die der Junge fallengelassen hatte, und entnahm die restlichen Platzpatronen. Er lächelte. Natürlich hatte er die Waffen nicht verwechselt. Den Satz hat er nur gesagt, weil er ihn als junger Mann von sich selbst gehört hatte. Den Teil konnte er nicht verändern. Er hatte nur auf das Einfluss, woran er sich selbst nicht erinnerte. Er hatte die Waffe doch nie untersucht. Er hatte stets angenommen, dass scharfe Munition darin war, aber zweifelsfrei gewusst hatte er das nicht.

Der alte Dominik Rakers lachte. Er lachte laut auf, er war dem Tod von der Schippe gesprungen. Er hatte keinen Timer mehr, der ihm ständig seine eigene Sterblichkeit vor Augen hielt. All die Jahre hatte er umsonst Angst vor diesem Tag gehabt. Er lachte, wie er noch nie zuvor gelacht hatte.

Dann griff er sich ans Herz. An das von jahrzehntelangem Drogenkonsum und übermäßigem Adrenalin arg in Mitleidenschaft genommene Herz. Das Herz, das nun aufhörte, zu schlagen. Er hatte den Tod besiegt und seine Todeszeit herausgezögert. Um genau sechzehn Minuten.