13. Oktober 2008

Klassenkampf in Linie 7

Sicherlich der Köln-spezifischste Text bisher, mit verschiedenen Haltestellennamen und anderen Eigenheiten der KVB. Würde wahrscheinlich trotzdem in anderen Städten funktionieren, auch wenn die Leute da nichts mit einem Formel-9-Ticket anfangen können. Klassenkampf in Linie 7 hatte ich irgendwann zwischen März und Mai 2008 geschrieben. Wäre der Doppelpack aus Zuviel Haut und Valium besser beim Publikum angekommen, wäre es im Mai-Slam mein Text für die zweite Runde geworden. Weil man als Nicht-Titelverteidiger im Blue Shell allerdings immer einen Monat Pause einlegen muss und ich mich irgendwie noch nicht so ganz zu anderen Slams hervorgearbeitet hatte, kam erst im Juli die nächste Chance, aber da hatte ich ja bereits Eskapismus vorgezogen und kam wieder nicht ins Halbfinale. Im September war ich es dann endlich leid und brachte den Text gleich in der ersten Runde - und wurde weitergewählt. Noch einmal meinen Dank an alle beteiligten. Seitdem habe ich den Text auch im Sonic Ballroom beim Dichterkrieg vorgetragen, mit etwas weniger Erfolg, trotzdem kam er, so glaube ich, ganz gut an.

Klassenkampf in Linie 7

Es ist fünf vor zwölf am Neumarkt, die Bahn ist dreiviertel voll,
genau wie die Fahrgäste, die Fahrt wird sicher toll.
Hinten in der Bahn liegt Kotze, ich frag mich, was das soll,
und ich muss noch den ganzen Weg nach Poll.

Also, den Geruch von Kotze fand ich nie besonders geil,
weswegen ich dann auch sofort weiter nach vorne eil'.
Zwei Plätze sind noch frei im vorderen Abteil,
stelle ich fest, als ich mal kurz die Lage peil'.

Links sitzen Bonzenkinder, rechts asoziale Schnorrer,
ich hab' also die Wahl zwischen Sodom und Gomorrha.
Ich greif in meine Tasche, ich les g'rad' Max Frisch's Andorra
und ich setz' mich zu den Bonzen, kurz darauf beginnt der Horror.

"Meine Mum hat mir zum Fachabi bloß 'nen A4 geschenkt,
dabei wollt' ich 'nen TT, das hat sie irgendwie verdrängt.
Boah, ich hab so 'nen Hals, Mann, die gehört echt aufgehängt!"
Ich rück etwas zur Seite. Ich fühle mich beengt.

Der and're freie Platz ist aber auch nicht wirklich besser,
in den ritzt einer der Asis g'rade Muster mit 'nem Messer.
Die Arme voller Einstiche, die Fresse voll Mitesser,
seine kaputte Freundin, die schießt sich ab mit Cerveza.

Jetzt ist die Dose leer, und sie lallt einen Fluch:
"Verdammt, weil Du den Hals nicht vollkriegst, hab ich jetzt nicht genug!"
Ich ignorier' die Trulla und vertief' mich in mein Buch,
doch dank dem Audi-Fahrer links bleibt's bloß bei dem Versuch.

"So ein asoziales Pack wie die geht mir nicht in den Kopp.
Ich brauch doch nur zum Mäckes geh'n, da krieg' ich sofort einen Job.
Wobei, das will ich eig'ntlich gar nicht, die Asis da sind mir zu grob.
Aber das brauch' ich ja auch gar nicht," grinst, ich wart' auf den Lynchmob.

Ich mein, selbst ich fang' ja jetzt an, diesen Kerl etwas zu hassen.
So eine Arroganz ist ja nun wirklich nicht zu fassen.
Doch statt dem Arschgesicht jetzt 'ne Abreibung zu verpassen
nimmt's der potentielle Lynchmob ganz gelassen.

Ich hatte ja gedacht, der Messer-Typ wär' jetzt empört.
Vielleicht hat er das Muttersöhnchen einfach überhört?
Gut möglich, weil aus seinem Handy Wolfgang Petry röhrt.
Jetzt fühl' ich mich von zwei Seiten gestört.

Das Lindenthaler Bonzenkind redet inzwischen weiter:
"Mann, die Mucke von den Asis da ist scheiße," sagt er heiter.
Ich bin jetzt nicht mehr allein genervt, rechts von mir sitzt ein zweiter,
und der erscheint etwas gewaltbereiter.

"Jetzt halt' bloß Deine Fresse, sonst schlage ich Dir drauf!
Pass bloß auf, was Du sagst, ich rate Dir, pass auf!
Probleme hab' ich schon genug," oder des Reims wegen "zuhauf".
Und ich denk', jetzt nimmt das Unheil seinen Lauf.

Der arrogante Schnösel fängt auf einmal an, zu lachen.
Was dümmeres konnte er in der Lage wohl nicht machen.
Das einz'ge, was er damit schafft, ist nämlich Zorn entfachen,
und im Geist hör ich schon seine Knochen krachen.

Der Typ haut dem Milchbubi doch bestimmt gleich ins Gesicht.
So sehr der Arsch auch nervte, verdient hat er das nicht.
Am liebsten würd' ich mich raushalten, denn ich bin nicht sehr erpicht
auf Prügel, doch was tun ist jetzt wohl meine Pflicht?

Jetzt steh'n auch noch alle auf, ich hab Gefahr auf beiden Seiten.
Klassenkampf in Linie 7, ich dazwischen, wenn die fighten.
Etwas mulmig wird mir schon, das kann ich wirklich nicht bestreiten,
doch ein Ende kann ich dem hier nicht bereiten.

Die Initiative wird mir plötzlich abgenommen.
Ich sehe, wie von hinten fünf Gestalten rüberkommen.
Ach hätte ich doch bloß die nächste Straßenbahn genommen...
Da seh' ich einen Ausweis halb verschwommen:

"Kann ich die Fahrscheine mal seh'n?" hör ich ein'n von ihnen fragen.
Na gut, denk ich, dann wird sich jetzt vielleicht doch nicht geschlagen.
Ich zeig ihm meine Karten, er guckt rüber zu den Blagen,
und dann hör ich den Bengel etwas sagen.

Das hätt' ich mir ja zwei Minuten vorher nicht erträumt:
"Diese Typen fahr'n mit uns mit. Abo-Tickets, Formel 9."
"Wir fahr'n mit denen," hat jetzt auch der and're eingeräumt.
Tja, der Feind meines Feindes ist halt doch der beste Freund...

Übrigens sind mir all die einzelnen Elemente in dem Gedicht tatsächlich passiert, wenn auch nie alle zusammenhängend am gleichen Abend.

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