17. Oktober 2010

Sterben nach Wunsch

Steffen Rademacher war kein impulsiver Mensch. Das war er noch nie. Solange er zurückdenken kann, war er zuverlässig wie ein Uhrwerk und hielt seinen Zeitplan penibel ein. Aufstehen um 6:30, Frühstück und Tageszeitung bis 7:05, abspülen, abtrocknen, duschen, rasieren, Zähne putzen. Er hatte für jeden Tag in der Woche eine bestimmte Krawatte und ein bestimmtes Abendessen (Montags gab es Kartoffeln, Dienstags und Donnerstags Nudeln, Mittwochs gab es Reis. Freitags Auflauf. Samstags wieder Kartoffeln. Sonntags aß er auswärts). Dreimal im Jahr ging er zu seinem Hausarzt, viermal im Jahr zum Zahnarzt, einmal im Jahr zum Augenarzt. Krank war er nie, und er gab auch nie vor, es zu sein. Steffen Rademacher litt nicht unter Zwangsneurosen. Er war einfach gründlich.

Jeden Morgen von Montag bis Freitag fuhr er mit dem Bus zur Arbeit. Jeden Morgen stieg er um 8:16 in den Bus. Jeden Morgen fuhr er 15 Stationen. Jeden Morgen verließ er den Bus um durchschnittlich 8:42, plusminus vier Minuten, je nach Verkehrslage. Es war eine wenig aufregende Busstrecke, aus der Stadt heraus, an Feldern vorbei, durch einen Wald, zurück in die Stadt, angekommen. Nachmittags dann die gleiche Strecke zurück. Steffen nutzte die Zeit, um sich von seinem Ipod Hörbücher vorlesen zu lassen. Dabei hatte er im Laufe der Jahre einen Automatismus entwickelt, der verhinderte, dass er das Aussteigen vergaß. Die einzelnen Haltestellen, die außerhalb des Busses dahinzogen, nahm er deswegen schon lange nicht mehr wahr. Mit einer Ausnahme: Jedes Mal fuhr der Bus fünf Minuten lang herum und hielt an einer Haltestelle mitten im Nirgendwo. Nie stieg jemand dort aus. Nie stieg jemand dort ein. Steffen dachte nie lange genug darüber nach, um sich beim Verkehrsunternehmen nach dem Grund dieses Umwegs zu erkundigen, außerdem vergaß er den Namen der Haltestelle immer wieder. Und doch wunderte er sich jeden Tag auf's Neue, warum diese Haltestelle eigentlich existierte.

Eines Tages gab es in Steffens Büro einen Stromausfall. Schnell stellte sich heraus, dass das gesamte Gebäude betroffen war – und dass es den Rest des Tages dauern würde, den Fehler zu beheben. Steffen stieg also in den Bus nach Hause und schaltete seinen iPod ein. Kurz darauf entschied er sich spontan, heute an der mysteriösen Haltestelle im Wald auszusteigen. Hätte ihn später jemand gefragt, warum er das tat, er hätte es nicht beantworten können. Es war keine Neugier, die ihn aus dem Bus trieb. Es war keine Langeweile oder die Frage, was er mit dem unerwartet freien Nachmittag anfangen sollte. Er tat es einfach.

Laut Fahrplan fuhr der Bus alle zehn Minuten. Steffen nahm sich vor, die Gegend um die Haltestelle herum fünf Minuten lang zu erkunden. Sollte er nichts finden, würde er einfach zurückgehen und den nächsten Bus nehmen.

Er atmete die kühle Waldluft ein und genoss für einen Moment die Stille. Dann fiel ihm auf, dass der Wald eigentlich gar nicht still sein dürfte. Das Rauschen des Windes in den Bäumen, das Zwitschern der Vögel, das Hämmern der Spechte, das Rascheln von unzähligen Kleintieren am Boden... all das fehlte. Steffen sah sich um. Da war kein Weg, der in den Wald führte, auf keiner Seite der Straße, also ging er einfach darauflos, zwischen den Bäumen hindurch. Nach einer Weile fand er ein kleines Gebäude. Zwei Stockwerke, mit einem Ladenlokal im Erdgeschoss. Auf der Schaufensterscheibe stand in goldenen Buchstaben:


STERBEN NACH WUNSCH


Im Schaufenster selbst stand eine große Sanduhr aus schwarz gebeiztem Holz, dahinter hing ein schwerer, weinroter Vorhang. Steffen sah sich um, es war das einzige Gebäude weit und breit. Wie hieß nochmal die Haltestelle? Er hatte es schon wieder vergessen. Genauso unerklärlich, wie er aus dem Bus ausgestiegen war, öffnete er jetzt die Tür und betrat das Geschäft. Innen sah er nur einen kleinen Tresen mit einem Telefon, dahinter kauerte eine uralte Frau. Vor dem Tresen stand ein Stuhl. Ansonsten war der Raum leer. Die Wände waren weiß, der Fußboden mit schwarzem Teppich ausgelegt. Es gab keine weitere Tür, kein Fenster. Neonröhren an der Decke erhellten den Raum.

Es roch stark nach Zimt und leicht nach Chlor. Die alte Dame sah Steffen in die Augen und fragte:

"Wie kann ich Ihnen helfen?"

"Ähm... ich... Verzeihung, was genau ist das hier für ein Laden?"

"Hier kann man den Tod kaufen."

"Ist das legal?"

"Es ist nicht verboten."

"Nun... dann wünsche ich noch einen schönen Tag. Ich kenne niemanden, den ich tot sehen will, und auch ich selbst möchte noch nicht sterben."

"Oh, da liegt ein Missverständnis vor. Sie müssen keinen Tod für heute aussuchen. Wobei das natürlich das günstigste Angebot wäre."

"Das günstigste Angeb... Hören Sie, ich will mich überhaupt nicht von einem Ihrer Mitarbeiter töten lassen, weder heute noch an irgendeinem anderen Tag."

"So etwas wie Mitarbeiter haben wir hier nicht. Das hier ist ein kleines Familienunternehmen. Hier gibt es nur meine beiden Schwestern und mich. Und sterben müssen Sie ja sowieso irgendwann. Bei uns können Sie entweder eine Todesart oder den Todestag aussuchen, natürlich gegen eine entsprechende Gebühr. Beides zusammen geht nicht, etwas Spannung muss Ihnen ja erhalten bleiben."

"Wie soll das denn gehen, Todestag aussuchen? Sie können doch nicht entscheiden, wann es mich erwischt?"

"Stimmt. Aber Sie können das. Die Preise reichen von 'zu früh von uns gegangen' für ein Versterben noch heute bis hin zum Modell 'Methusalem', bei dem Sie ein dreistelliges Alter zum Zeitpunkt des Todes hätten."

"Und darauf fallen Leute herein? Wie soll das denn gehen? Ich meine, wenn ich jetzt einen Todestag in, sagen wir mal 50 Jahren kaufen würde, wer garantiert Ihnen denn, dass ich nicht schon morgen von einem Auto überfahren werde? Wenn ich morgen sterbe, ist es doch egal, was ich heute hier kaufe."

"Wenn Sie einen Todestag in 50 Jahren erwerben, dann werden Sie nicht morgen sterben. Genau das ist die Dienstleistung, die wir hier anbieten. Wobei 50 Jahre auch schon im gehobenen Preissegment zu finden sind. Ich meine, Sie sind jetzt wie alt, Herr Rademacher? 40, 42 Jahre?"

Steffen nickte, auch wenn er sich nicht daran erinnern konnte, ihr seinen Namen genannt zu haben.

"Ja, 42 Jahre ist korrekt."

"Sehen Sie, dann würden Sie im Alter von 92 sterben. Das zählt schon als 'überdurchschnittliche Lebenserwartung'."

"Ich verstehe immer noch nicht, wie Sie dieses Alter denn garantieren können. Ich meine, mich zu einem vereinbarten Termin umzubringen, ist eine Sache, aber wie um Himmels Willen können Sie denn garantieren, dass mir nicht schon vorher etwas zustößt?"

"Wir machen das schon eine ganze Weile. Davon abgesehen wird das Geld bei Wahl des Todestages auch erst an jenem Tag abgebucht."

"Das ist aber immer noch kein überzeugendes Argument."

"Dann lassen Sie es. Oder entscheiden Sie sich stattdessen für eine Todesart. Wollen Sie im Schlaf sterben? Im Bett mit einer hübschen, jungen Frau? Das sind unsere beiden begehrtesten Todesarten, allerdings auch natürlich die teuersten. Am anderen Ende des Preisspektrums liegen Krankheiten und Verkehrsunfälle mit langem Dahinsiechen im Krankenhaus. Aber auch dazwischen haben wir einige attraktive..."

"Ach, das ist doch alles absurd. Ich gehe."

"Wenn Sie es sich anders überlegen, wissen Sie ja, wo Sie uns finden."

Steffen verließ das Geschäft, ging zurück zur Haltestelle und nahm den nächsten Bus nach Hause. Ein paar Wochen lang verfolgte ihn der merkwürdige Laden mit seinem verrückten Konzept und dieser drolligen alten Dame in seinen Träumen. So ein Unsinn. Als ob man seinen Tod kaufen könnte. Und was sollte dieses Entweder-Oder? Todesart oder Todeszeit, aber nicht beides? Das brachte ja gar nichts. Was nützte einem ein garantierter Tod in 30 Jahren, wenn man 28 davon im Koma verbringt, bevor die Verwandtschaft endlich die Geräte abstellen lässt? Auf der anderen Seite konnte man sich eine noch so unwahrscheinliche Todesart aussuchen, wie von einem weißen Tiger gefressen zu werden; aber wer garantierte denn, dass keiner aus dem Zoo oder aus dem Zirkus ausbricht, womöglich schon nächste Woche? Fragen über Fragen. Wobei... interessant wäre es ja schon.

Mehrere Jahre gingen ins Land, und irgendwann hatte Steffen aufgehört, an den seltsamen Laden zu denken. Dann wurde irgendwann bei einem seiner Routinearzttermine Bauchspeicheldrüsenkrebs diagnostiziert.

"Fünf oder sechs Monate, Herr Rademacher, aber das ist das absolute Maximum. Rechnen Sie lieber mit weniger und freuen Sie sich über jeden Tag, der ihnen dann noch bleibt."

Die Diagnose konnte doch nicht stimmen. Nicht bei ihm. Er hatte sich stets gesund ernährt, hatte Alkohol und Zigaretten vermieden, ging regelmäßig zur Vorsorgeuntersuchung... Unmöglich! Aber ein zweiter Arzt bestätigte die Diagnose, ging sogar nur von drei bis vier Monaten aus, die ihm noch verblieben.

Und da fiel ihm wieder dieses Haus im Wald ein. Er hatte nichts mehr zu verlieren, warum sollte er es also nicht versuchen? Er fuhr erneut zur Haltestelle, irrte ein paar Minuten durch den Wald und kam dann wieder zu dem kleinen Geschäft. Dieses sah unverändert aus. Noch immer stand da diese Sanduhr im Schaufenster, allerdings war diesmal kaum noch Sand in der oberen Hälfte. Irgendwie passend. Er betrat das Geschäft. Die gleichen weißen Wände. Der gleiche weiße Teppichboden. Der gleiche Geruch nach Chlor und Zimt. Bloß die Frau hinter der Theke war eine andere. Jünger.

"Guten Tag, mein Name ist Rademacher. Ich würde gerne einen Todestag kaufen."

"Nett, Sie kennenzulernen. Meine Schwester hat schon von Ihnen erzählt."

Steffen stutzte.

"Schwester? Ich verstehe nicht... Die Dame, mit der ich letztes Mal sprach, war doch bestimmt vierzig Jahre älter als Sie, wenn nicht sogar noch mehr..."

"Oh nein, das täuscht. So weit sind wir gar nicht auseinander. Keine Sorge, den Fehler machen viele. Aber kommen wir doch zum geschäftlichen Teil. An was für einen Tag haben Sie denn gedacht?"

"Na ja, das kommt ganz darauf an. Sehen Sie, meine Ärzte haben mir ein halbes Jahr prognostiziert. Krebs, wissen Sie? Für jeden Tag mehr wäre ich dankbar. Wobei ich natürlich schon immer gedacht hatte, dass ich mal irgendwann die Rente genießen könnte. Allerdings weiß ich nicht, ob ich mir das leisten kann, ich kenne ja Ihre Preise noch gar nicht."

"Lassen Sie mich mal sehen."

Sie tippte auf einem Taschenrechner herum, der offenbar schon die ganze Zeit auf der Theke lag, ohne dass Steffen ihn bemerkt hätte.

"Nun, bis zur Rente wären es bei gleichbleibendem Renteneintrittsalter etwa... Ihre Lebenserwartung ist... Das macht dann bei aktuellem Eurostand..."

Sie schrieb einen Betrag auf einen Notizzettel. Den Notizblock hatte Steffen vorher genauso wenig beachtet wie den Taschenrechner. Er las die notierte Summe. Das war zuviel. Den Betrag würde er nie bezahlen können. Selbst bei Ratenzahlung würde er um einiges länger brauchen als er gerade auszuhandeln versuchte. Peinlich berührt schüttelte er den Kopf.

"Das kann ich mir nicht leisten. Wie teuer wären denn, sagen wir mal, drei Jahre?"

Die Frau hinter der Theke überlegte kurz und notierte dann eine zweite, bedeutend realistischere Summe. Steffen schluckte, dann nickte er. Drei Jahre. Das war nicht viel. Aber klar, verglichen mit dem, was seine Ärzte ihm versprechen konnten, war das eine ganze Menge. Und selbst, wenn das hier alles Betrug ist, in spätestens sechs Monaten würde er sowieso nichts mehr mit dem Geld anfangen können. Die Frau setzte den Papierkram auf, Verträge, Einzugsermächtigung, einige seltsame Dokumente bezüglich des Abtritts und des Erwerbens von Lebenszeit, die Steffen mehrmals durchlas, aber nicht wirklich verstand. Zumindest schien er daraus keinen Schaden zu haben, also unterzeichnete er alles. Er bekam Kopien der Papiere ausgehändigt und ging. Er sah noch einmal zurück. War die Sanduhr nicht vorhin noch etwas leerer? Merkwürdig. Aber sicherlich kein schlechtes Omen.

In den nächsten Monaten überschlugen sich dann die guten Nachrichten. Es begann damit, dass beide Ärzte Fehldiagnosen einräumten. Auf unerklärliche Weise seien in beiden Fällen Laborwerte vertauscht worden. Er habe gar keinen Krebs. Steffen fragte sich, ob es ein Fehler war, sein Leben auf drei Jahre festzusetzen, oder ob erst das dazu führte, dass er keinen Krebs hatte. Erst einmal abwarten, schien ihm der vernünftigste Weg zu sein. Nicht, dass die neuen Diagnosen die falschen waren. Erst einmal sehen, ob er tatsächlich die nächsten sechs Monate überlebte.

Und das tat er. Außerdem handelte seine Gewerkschaft einen neuen Tarif aus, der sein Einkommen etwas erhöhte. Er lernte im Bus eine Frau kennen, und die beiden verstanden sich blendend. Sie zogen zusammen und merkten, dass das funktionierte. Schon recht bald fragte er sich, wie er je ohne sie ausgekommen war. Sie heirateten. Und in dem ganzen Trubel merkte er gar nicht, dass die sechs Monate verstrichen, er aber immer noch da war. Er wurde befördert, was sein Gehalt noch einmal deutlich nach oben korrigierte und außerdem dazu führte, dass er nun in einem Bürogebäude am anderen Ende der Stadt arbeitete und auf dem Weg dorthin nicht mehr durch den Wald fuhr. Seine Frau wurde schwanger, bekam Zwillinge, und Steffen hatte plötzlich ganz andere Sorgen als den Laden oder den Handel, den er eingegangen war. All das erschien ihm mittlerweile wie ein Traum, den er als Kind hatte. Oder wie ein Film, den er mal vor Jahren gesehen hatte. Etwas unwirkliches, nichts das ihm selbst passiert sein konnte.

Bis er dann eines Tages seine Weihnachtseinkäufe mit EC-Karte zahlen wollte und das nicht ging. Er lief zu seiner Bank und sah seine Zahlungsabgänge durch. Das Unternehmen "Sterben nach Wunsch" hatte einen gewaltigen Betrag abgebucht. Den vereinbarten Betrag. Ihm ging durch den Kopf, was die alte Frau gesagt hatte:

"Wir machen das schon eine ganze Weile. Davon abgesehen wird das Geld bei Wahl des Todestages auch erst an jenem Tag abgebucht."

An jenem Tag. Dem Todestag. Wenn das Geld heute abgebucht wurde, dann... Er musste so schnell wie möglich zu dem Haus im Wald. Dieses Mal achtete er auf jede einzelne Haltestelle. Er stieg aus, rannte durch den Wald und erreichte den Laden. In der oberen Hälfte der Sanduhr waren nur noch ein paar wenige Krümel. Er stürzte in das Geschäft. Hinter der Theke stand ein kleines Mädchen, noch einige Wochen vom Beginn der Pubertät entfernt.

"Herr Rademacher, hallo. Meine Schwestern haben mir schon von Ihnen erzählt. Aber warum kommen Sie denn hierher?"

"Ich brauche... mehr Zeit... Familie... ich..."

Er musste erst einmal zu Atem kommen.

"Ich verfüge jetzt über ein höheres Einkommen als damals bei Vertragsunterzeichnung. Ich muss unbedingt noch ein paar Jahre dranhängen."

"Dranhängen? Aber... das geht nicht. Sie haben bereits Zeit von jemandem bekommen, der gerne im Schlaf sterben wollte und das knappe drei Jahre vor seinem eigentlich geplanten Schicksal tat. Und so wie es aussieht, haben Sie diese Zeit so gut genutzt, wie das nur möglich ist. Aber diese Prozedur lässt sich nicht wiederholen. Wir haben das versucht, oft genug. Aber wenn man den Lebensfaden ein zweites Mal manipuliert, dann reißt er. Ohne Ausnahme. Und glauben Sie mir, ein gerissener Lebensfaden ist alles andere als schön.

"Aber dann..."

"Dann können wir nichts machen. So, wie ich das sehe, bleibt Ihnen noch etwa eine halbe Stunde. Gehen Sie am bes..."

"Eine halbe Stunde?! In der Zeit schaffe ich es ja nicht einmal mehr nach Hause zu meiner Familie! Was soll ich denn jetzt machen?!"

"Am besten, Sie gehen irgendwohin, wo der Tod nicht schmerzhaft sein kann. Meiden Sie die Straße. Meiden Sie die Stadt. Essen Sie nichts, an dem Sie ersticken könnten. Meiden Sie Stromleitungen. Wilde Tiere So etwas halt. Setzen Sie sich an eine ruhige Ecke im Wald, und beten Sie. Vielleicht hier draußen vor dem Fenster? Das würde sich anbieten. Tiere meiden diesen Ort, ich glaube, sie spüren den Tod."

In diesem Moment kam die mittlere der drei Schwestern die Wendeltreppe im hinteren Teil des Ladens herunter.

Ihm fiel auf, dass diese Treppe bei all seinen Besuchen schon da war, aber er sie nie registriert hatte.

"Oh, Herr Rademacher. Sie hätten nicht herkommen brauchen. Wir hätten Sie auch an jedem anderen Ort gefunden."

Steffen ging aus dem Laden. Er dachte kurz darüber nach, mit seinem Handy seine Frau anzurufen, ließ es dann aber bleiben. Er wusste nicht, was er hätte sagen sollen, ohne dass es wie der Abschied vor einem Selbstmord geklungen hätte. Und er wollte der Nachwelt nicht als Selbstmörder im Gedächtnis bleiben.

Verzweifelt ging er seine Optionen durch. Er wollte um jeden Preis mit ansehen, wie seine Kinder groß wurden und ihm irgendwann Enkel gaben. Er wollte mit seiner Frau zusammen alt werden. Er wollte noch nicht sterben. Es gab so vieles, was er nie gemacht, nie gesehen, nie geschafft hatte. Er ließ sich auf einen Baumstumpf sinken und sah zum Schaufenster herüber. Er konnte aus der Entfernung keinen Sand mehr in der oberen Hälfte sehen. Jetzt würde es gleich zuende gehen. Aber was konnte er tun? Wie konnte er seinen Tod abwenden? Und dann ging es ihm auf.

Er rannte zurück zum Laden und stürmte hinein. Das kleine Mädchen hinter der Theke erschrak. Er lief zur Wendeltreppe und nahm zwei Stufen auf einmal auf dem Weg nach oben. Dort angekommen, sah er die alte Frau über einem gigantischen Webstuhl gebeugt, eine Schere in der Hand. Sie griff nach einem Faden. Er griff nach der Schere.

Steffen Rademacher war kein impulsiver Mensch. Das war er noch nie. Solange er zurückdenken kann, war er zuverlässig wie ein Uhrwerk und hielt seinen Zeitplan penibel ein. Die besten Voraussetzungen, um zum Tod zu werden. Denn wenn man den Tod besiegt, muss man seine Rolle einnehmen. Ohne Tod geht es nicht. Wenn alle Menschen unsterblich wären, würden sie bis zum Organversagen weiteraltern und in alle Ewigkeit Schmerzen erleiden, ohne jemals erlöst werden zu können. Es muss immer einen Tod geben. Er erstach die alte Frau. Es war Notwehr. Und in ihrem Tod lächelte sie, neugierig auf das, was sie nun erwartete. Das, was sie über Jahrtausende den Menschen gebracht hatte. Das, von dem sie nie gedacht hätte, es mal selbst zu erfahren. Das von dem sie dachte, dass es ihr auf ewig vorenthalten würde. So, wie es nun Steffen vorenthalten wird.

Und Steffen sah hinüber zum Webstuhl, wissend, dass er nun die Fäden der Menschen durchtrennen müsste. Für immer. Zuverlässig wie ein Uhrwerk. Penibel nach dem vorgeschriebenen Zeitplan. Einfach gründlich. Auf gewisse Weise hatte er sich sein ganzes Leben lang auf diese Aufgabe vorbereitet. Doch da sah er den Fehler im Plan. Er durfte keine Ausnahme machen. Nicht für seine Frau. Nicht für seine Kinder. Er würde sie nie wiedersehen. Er würde irgendwann auch ihr Leben beenden müssen.

Und in diesem Moment wünschte er, er hätte sich für das Sterben entschieden...

9. Oktober 2010

Das Hörbuch zur Poetry Night



Das Hörbuch zur Poetry Night

Gratis-Hörbuch zum Download, mit je zwei Geschichten von Jacinta Nandi und mir, sowie noch einigen anderen netten Menschen.
Produziert im August 2010 von Audible.de

4. Oktober 2010

Experimental-Slam: Ab dem 10.12.


Ab dem 10.12.2010 moderiere ich den alle drei Monate stattfindenden Experimental-Slam im Labor, Berlin. Dabei wissen Slammer und Zuschauer vorher nicht, was sie erwartet. Mal werden Gedichte und Texte in völliger Finsternis vorgetragen, mal werden Texte getauscht, mal müssen die Poeten vor Ort noch etwas zu einem bestimmten Kunstwerk schreiben und vortragen, mal ist es etwas völlig anderes. Unterhaltsam wird es wohl auf jeden Fall.

Bisher zugesagt haben:
  • Robin Isenberg
  • Tom Mars
  • Eve McFar
  • Lyly Schoettle
  • Josefine Berkholz

27. August 2010

Wahrheit

Am Ende ist natürlich alles egal. In den letzten Sekunden vor dem Big Crunch, bei dem sich das gesamte Universum innerhalb weniger Sekunden auf die Größe des Kopfes einer Stecknadel kontrahiert, die am Revers eines Engels steckt, der mit Milliarden weiterer Engel auf dem Kopf einer Stecknadel tanzt, in diesen Sekunden vor dem Ende von allem, was ist, da ist absolut alles egal. Jahrmillionen nachdem selbst die Kakerlaken ausgestorben sind, Äonen nach dem Ende der Ewigkeit, wirklich ganz am Ende der Existenz, wenn selbst Gott langweilig geworden ist und er einen Schlussstrich unter das Ganze setzt, wenn er Himmel und Hölle dicht macht, wenn am Ende nur noch das Wort übrig ist, der Geist Gottes wieder über dem Wasser schwebt und dann das Licht aus macht, dann kümmert es niemanden mehr, ob Du zwei Milliarden Euro auf dem Konto hattest oder ob Dein Dispo überzogen war. Dann ist niemand mehr da, der der Frage nachgeht, ob Du dreimal täglich Zahnseide benutzt hast, ob Du beim Kiffen inhaliert hast oder wie hoch Dein High Score bei Tetris war. Ganz am Ende ist selbst das egal.

Aber bis dieser Punkt erreicht ist, gibt es die Wahrheit. Denn es ist die Wahrheit, die zuletzt stirbt, noch lange nach der Hoffnung. Allerdings weiß kaum einer, dass Wahrheit relativ ist und nicht an Tatsachen gebunden. Wahrheit ist das einzigartige Phänomen einer funktionierenden absoluten Demokratie. Denn Wahrheit ist, was die Mehrheit glaubt. Und nichts anderes. Gab es die griechischen Götter um Zeus, Hera, Dionysos und Poseidon wirklich? Waren sie nur Reisende von anderen Planeten? Oder waren sie fiktive Protagonisten, die wie Sherlock Holmes, Batman, James Bond oder Andi Strauß durch verschiedene Geschichten von verschiedenen Autoren geistern, weil das Publikum sie mag? Die Wahrheit ist, was die meisten Menschen glauben. Wenn die meisten Menschen heute glauben, dass die antiken Götter nur der Versuch der damaligen Priester war, der breiten Masse ihren Willen als Gesetze von höheren Existenzen zu verkaufen, dann ist genau das die Wahrheit. So wie die Wahrheit damals war, dass die griechischen Götter tatsächlich existierten. Das glaubten damals die meisten Menschen (bis auf die Priester), also war das die Wahrheit.
Und wenn in dreißigtausend Jahren irgendwelche Archäologen vom Planeten Pffrt ein Green Lantern-Comic oder eine DVD-Box von LOST oder eine Ausgabe der Bild-Zeitung finden und das ganze für historische Aufzeichnungen halten, dann werden sie das auch für die Wahrheit halten, und dann wird das die Wahrheit sein.

Was uns natürlich eine riesige Chance gibt. Denn das bedeutet, dass wir heute entscheiden können, was in dreißigtausend Jahren wahr ist. Wir können beispielsweise diesen Text in eine Zeitkapsel legen, um der Nachwelt ein für alle Mal zu zeigen, was die Wahrheit ist. Denn die Alternative wäre viel zu langweilig. Geschichte wird von den Siegern geschrieben. Die Wahrheit… von uns.

Bei L. Ron Hubbard hat das auch geklappt. Der hat sich eine bekloppte Geschichte um Xenu, Thetans und goldene Flugzeuge ausgedacht, und Tom Cruise, John Travolta, Jason Lee und Beck halten das heute für die Wahrheit und geben dafür ein Heidengeld aus.

Also gut. Liebe Archäologen vom Planeten Pffrt. Das folgende ist die Wahrheit, die reine Wahrheit und nichts als die Wahrheit. So wahr mir Zeus helfe.

Elvis lebt. Tupac lebt. Michael Jackson lebt. Und sie treffen sich einmal in der Woche, um zusammen zu jammen. Paul McCartney hingegen ist 1966 gestorben und wurde durch ein Double ersetzt. Das gleiche ist übrigens 1998 mit Christopher Walken passiert.

Ein kleines Steak ist so wertvoll wie ein Becher Fruchtzwerge.

Die CIA hat einen Schimpansen trainiert, von einem Grashügel aus John F. Kennedy zu erschießen, weil dieser wusste, dass in der Area 51 der heilige Gral aufbewahrt wird.

Lady Gaga macht gute Musik und hat diesen ganzen schrillen Schnickschnack gar nicht nötig.

Freimaurer, Illuminaten oder Skulls & Bones gibt es gar nicht wirklich. Sie sind eine Fassade, damit niemand dahinter kommt, dass eine Gruppe intelligenter Grippeviren aus Albuquerque im Hintergrund die Fäden zieht.

Pluto ist ein Planet.

OJ Simpson hat seine Frau nicht umgebracht. Helene Hegemann hat alles selbst geschrieben. George Bush jr. wurde im Jahr 2000 demokratisch zum Präsidenten gewählt. Und Bill Clinton hatte wirklich keinen Sex mit Monica Lewinski.

Jeder einzelne Mensch, der behauptet, von Aliens entführt worden zu sein, hat Recht.

Vampire existieren. Aber sie sind keine zwielichtigen Gestalten, die im Sonnenlicht glitzern, sondern explodieren in einer stinkenden Staubwolke. Werwölfe hingegen sind frei erfunden. Außer in Lappland.

Von allen Religionen, die es heute gibt, ist das Christentum die richtige. Die Welt, das Universum und all seine Bewohner wurden in sieben Tagen von Gott erschaffen, der die Schöpfung danach in ein gigantisches Terrarium gesteckt hat, daneben hängt ein Schild mit der Aufschrift „Bitte nicht füttern.“ Erdbeben, Tsunamis und Flutkatastrophen werden dadurch ausgelöst, dass Jesus, bei dem nicht bloß die Eltern miteinander verwandt sind, sondern der auch noch sein eigener Vater ist, mal wieder Wasser zu Wein gemacht hat und im Vollsuff gegen das Terrarium stolpert.

Windows 7 ist das beste Betriebssystem der ganzen Welt, und ein iPad ist ohne diesen ganzen Schnickschnack wie USB oder Flash-Animationen viel besser als ein Laptop.

Ja, der Fisch, den ich gestern gefangen habe, war wirklich so groß, ich bin die Reinkarnation von Jim Morrison, ich kann jederzeit mit dem Rauchen aufhören, und außerdem hab ich den Längsten.

Und das… ist die Wahrheit.

How to Break a Streit vom Zaun

Ich stehe vor dem Arkaden-Einkaufszentrum und warte. Mit dem halben Arsch sitze ich auf dem einzigen freien Fahrradständer, und ich lese ein Buch. Zumindest versuche ich das, aber meine geradezu homöopathisch verdünnte Konzentration führt dazu, dass ich jeden Absatz zweimal lese.
Ich warte.

Vor mir ist ein ständiges Kommen und Gehen. Menschen betreten oder verlassen das Einkaufszentrum oder die angrenzende Sparkasse, um Geld einzuzahlen oder ihre Kontoauszüge daraufhin zu überprüfen, ob der diskrete Versand mit der Einzugsermächtigung als Verwendungszweck tatsächlich wie vereinbart Finanzdienstleistungen angegeben hat. Denn es ist schwer zu sagen, was peinlicher wäre: Der vollständige Titel Natur-Sekt Direkt Aus Prachtschwänzen… oder die Abkürzung… Aber ich schweife ab.

Ich stehe also noch immer vor dem Arkaden-Einkaufszentrum und warte. Mit dem halben Arsch sitze ich auf dem einzigen freien Fahrradständer, und ich lese ein Buch. Zumindest versuche ich das, aber meine geradezu homöopathisch verdünnte Konzentration führt dazu, dass ich jeden Absatz zw… das hatte ich doch schon.
Ich warte.

Hinter mir, hinter den Fahrradständern, ist die Straße. Und da brausen gerade an der auf grün springenden Ampel gefühlte viertausend Autos los, als gäbe es nur noch drei freie Plätze im Parkhaus des Bundesamtes für völlig sinnlose Bargeldverschenkung. Wenn man seine Lebenserwartung auf die Menge meiner verbliebenden Konzentration reduzieren wollte, dann wäre es nicht die schlechteste Idee, einfach zwischen die Autos von Nick Heidfeld und Fernando Alonso zu springen. Aber ich schweife ab.

Ich stehe also immer noch vor dem Arkaden-Einkaufszentrum und… ach, das ist doch albern.

Von rechts betritt ein… ich sag jetzt mal euphemistisch „Mensch“ mein Blickfeld. Etwa so groß wie Asterix, etwa die Figur von Obelix, und der sagenhafte Schnurrbart würde sich ebenfalls chamäleonartig in das Gallische Dorf einfügen. Oder in einen schlechten Porno aus den Siebzigern. Ich verliere mich gerade in Gedanken über eine Pornoparodie von Asterix, Arbeitstitel: Gangbang für Falbala, als mich der Mann, der an dem Schnauzbart dranhängt, eloquent und freundlich anspricht: „Ey.“

Ich sehe langsam wie in einem Clint Eastwood Western von meinem Buch auf und mustere diese mit der linken Hand gezeichnete Karikatur seiner selbst von oben bis unten. Die bartähnliche Wucherung auf der Oberlippe ist so groß wie ein Walross. Also… so groß wie das ganze Tier. Und der Bart hat zumindest auf der Brust Metastasen gestreut, wahrscheinlich auch noch woanders, aber dank des offenen Polohemds sieht man es hier halt gut.
Besagtes Polohemd besteht aus äquatorlangen Querstreifen in grün und violett. Eine durchaus modische Farbkombination, aber auch nur, wenn man Der Unglaubliche Hulk ist.

Darunter sieht man ein kleines bisschen zu viel von seiner ebenfalls bärtigen Plauze, wiederum darunter ist eine kurze Hose, daran eine dieser hässlichen Gürteltaschen mit Reißverschluss, das obligatorische Handyetui und ein weiteres Anhängsel für seine Zigaretten. Batman wäre stolz auf diesen Gürtel. Für die Kombination aus Socken und Sandalen würde sich Batman allerdings schämen. Und das protzige Mountain-Bike war auch nicht gerade ein würdiger Ersatz für das Batmobil. „Das ist kein Stuhl“, bemerkt er scharfsinnig.

„Ich weiß. Ich habe auf jemanden gewartet, und der Fahrradständer hier war frei, “ antworte ich und trete etwas zurück. Nicht so weit, dass man mich vom Hockenheimring hinter mir kratzen müsste, aber weit genug, damit der gallische Hulk, kurz Galk, sein Fahrrad an den einzigen Ständer ketten kann, den er heute bekommen wird. Er dankt es mir mit den Worten „Aber das ist kein Stuhl.“

Da hat er Recht. Des ungeachtet warte ich, bis er fertig ist und setze mich dann wieder auf den Fahrradständer. Dies passt offenbar nicht ganz in das Weltverständnis des Galk. Er starrt mich mit offenem Mund an. Ich wende mich gerade wieder meinem Buch zu, als er die Worte findet, die er gesucht hat: „He… also das ist ja…“

Ich gebe vor, davon erschreckt zu sein, zucke zusammen und stoße wie versehentlich gegen sein Fahrrad, das natürlich mit lautem Scheppern zu Boden geht. Ein Rad hängt immer noch auf Bodenhöhe am Fahrradständer. „Ups.“ Galk stürmt auf mich zu: „So eine Unverschämtheit. Was ist denn, wenn das jetzt verbogen ist?!“

Ich betrachte das Rad. Kein Kratzer. Wie geplant. Aber ich packe beherzt an, reiße das Gefährt wieder hoch und stelle es wieder auf, nicht ohne es noch einmal kräftig gegen den Ständer zu knallen. „Hach. Das war aber auch ungeschickt angeschlossen.“

Ich gehe demonstrativ zum nächsten Fahrradständer, wo der Rahmen des Rads oben an der Querstange des Ständers hängt und setze mich daneben, ohne das Rad zu bewegen. „Wenn man nicht zu blöd ist, sein Rad anzuschließen, passiert auch nichts.“

„Jetzt werd mal nicht frech!“ ruft er. Ich erinnere mich daran, wie man in solchen Situationen Gewalt vermeiden kann und rede leise, aber eskalierend auf ihn ein: „Fresse, Du Spasti. Fahr mal lieber nach Thailand und schwänger im Suff noch ‘ne 12jährige.“

Darüber, dass ich sein Lieblingshobby erraten habe, bleibt ihm offenbar die Luft weg. Er spielt seine Trumpfkarte aus: „Ich kann auch die Polizei holen, die nimmt dann Deine Personalien auf.“

Ich mache ein unschuldiges Gesicht. „Tut mir sehr leid, Ihre Zeit mit diesem Unfug zu vergeuden, aber der Herr hier hat sich in den Kopf gesetzt, dass ich sein Rad absichtlich umgeworfen habe, dabei musste ich einem Auto ausweichen, das mich fast überfahren hätte. Ich hab mich schon dreimal bei ihm entschuldigt, aber er ließ sich nicht davon abhalten, Sie dazuzuholen. Nein, dem Rad ist nichts passiert, wie Sie sehen.“

Der Unglaubliche Galk kneift die Augen zusammen. Ich würde ihn nicht mögen, wenn er wütend ist. Mir egal, ich mochte ihn schon vorher nicht. Ich grinse ihn provokativ an.
Er holt mit seiner rechten Faust aus und zielt auf mein Gesicht. Ich lasse mein Buch fallen, hebe beide Hände abwehrend und rufe laut:

„Bitte gehen Sie weg. Ich kenne Sie nicht. Ich will keinen Streit.“

Dann zwinkere ich ihm noch einmal heimlich zu, um mein Statement zu entkräftigen. Wichtig ist, dass die Zeugen hinterher sagen, dass ich alles getan habe, um eine Konfrontation zu verhindern. Galk stürzt mich auf mich. Ich weiche geschickt aus und lasse ihn gegen sein eigenes Rad knallen, das die Gelegenheit nutzt und noch einmal zu Boden fällt.

„Bitte lassen Sie mich in Ruhe. Ich will nur mein Buch aufheben, dann gehe ich.“ Sage ich laut.

„Deine Mutter wohnt auf Deiner Couch und macht es mit dem Pizzaboten, und Dein Vater wählt die FDP.“ Sage ich leise.

Das reicht. Mit einem Brüllen stürzt er sich auf mich. Ich bücke mich nach meinem Buch, und der Galk, bürgerlicher Name Heinz Jensen, stolpert über mich und fällt auf die Fahrbahn. Ein Knall. Jensen wird frontal von einem Bus erwischt. Er schreit vor Schmerzen auf. Dieser Schrei geht durch Mark und Bein und vermischt sich mit quietschenden Reifen, als der Bus anhält. An der Frontscheibe kleben Blut und Haare, und etwas, das wie Hirn aussieht. Heinz Jensen liegt auf der Straße, die Arme und Beine zu Posen angeordnet, die mit nicht gebrochenen Knochen unmöglich wären. Er weint vor Schmerzen, die Kontrolle über seine Exkremente hat er verloren, und sein gesamtes Gesicht ist blutüberströmt. Blut läuft ihm aus dem Mund, und er atmet rasselnd, blubbernd. Ich alarmiere sofort einen Rettungswagen per Handy. Bis der aber durch das Verkehrschaos durch ist, das der Bus angerichtet hat, ist Jensen mit weit aufgerissenen Augen an seinem eigenen Blut erstickt. Irgendwo weint ein kleines Kind.



Ja. Genauso würde ich Ihren Mann umbringen, Frau Jensen. In aller Öffentlichkeit, und trotzdem haben Sie nicht zu befürchten, dass der Verdacht auf Sie fällt. Bei einem Unfall erhöht sich die Summe, die Sie von der Lebensversicherung bekommen. Die 40%, die ich für den Auftrag bekomme, beziehen sich somit auf die erhöhte Summe. Nett, mit Ihnen Geschäfte zu machen.

16. August 2010

Der Schönste Tag

Der schönste Tag



Hey, unbekannte Person von der Haltestelle Boddinstraße. Das hier ist für Dich. Ich wünsche Dir, dass Du morgen den schönsten Tag Deines Lebens hast.

Du sollst um halb zehn aufwachen und Dich daran erinnern, dass Du morgen ja gar nicht arbeiten musst. Du döst dann noch ein oder zwei Stunden weiter und stehst auf, nur um festzustellen, dass das warme Licht der Sonne Dein Schlafzimmer auf angenehme 23° Celsius aufgewärmt hat - ohne Dich zu blenden. Ein Blick in den Kühlschrank offenbart noch drei Rollen Aufback-Croissants und verschiedene Gläser Marmelade, dazu Butter, Frischkäse, Nougatcreme, was immer Dein Herz begehrt. Du schiebst also ein Blech Croissants in den Ofen und gehst duschen. Im Radio laufen hintereinander vier Deiner Lieblingslieder, darunter eines, das Du schon seit zwölf Jahren nicht mehr gehört hast. Die Dusche hält die ganze Zeit konstant eine angenehme Temperatur, und als Du heraussteigst und Dich in einen flauschigen Bademantel hüllst, sind die Croissants gerade fertig.

Hey, unbekannte Person von der Haltestelle Boddinstraße, ich weiß nicht, wie Du heißt, aber ich wünsche Dir, dass Du morgen den schönsten Tag Deines Lebens hast.

Du ziehst nach dem Frühstück Deine Lieblingsklamotten an und gehst zum Briefkasten, um festzustellen, dass Du vier Millionen Euro im Lotto gewonnen hast, die Dir nächste Woche Montag von einem Geldboten überreicht werden. Du fährst daraufhin doch zur Arbeit und legst Deinem Chef die Kündigung und ein paar druckfrische Croissants auf den Schreibtisch. Dann drückst Du Deinem Schwarm aus der Buchhaltung, den Du Dich nie getraut hast, anzusprechen, einen dicken Kuss auf den Mund und schwebst aus dem Gebäude. Danach gehst Du erstmal shoppen.

Hey, unbekannte Person von der Haltestelle Boddinstraße. Du hast mit mir auf die U8 gewartet, und ich wünsche Dir, dass Du morgen den schönsten Tag Deines Lebens hast.

Der neue 3D-fähige Breitbildfernseher wird noch am gleichen Tag nach Hause geliefert, den Blu-Ray-Player und die Top30 Deiner Lieblingsfilme nimmst Du gleich mit. Du probierst die zwei Kleiderschränke voll neuer Klamotten an, während Du im Hintergrund nacheinander Deine Lieblingsszenen aus Deinen Lieblingsfilmen laufen lässt. Dann verabredest Du Dich mit Deinem Freundeskreis, um abends ordentlich zu feiern, natürlich in komplett neuer Garderobe.

Hey, unbekannte Person von der Haltestelle Boddinstraße. Du standest hinter mir am Fahrkartenautomaten, und ich hatte Dich erst gar nicht gesehen. Ich wünsche Dir, dass Du morgen den schönsten Tag Deines Lebens hast.

Das wird die größte Feier, die Du je gegeben hast. Du gibst eine Runde nach der anderen für den ganzen Club, und man trägt Dich auf Händen. Du hast auf der Toilette verdammt guten Sex mit gleich drei Personen hintereinander, und das innerhalb von nur zweieinhalb Stunden. Um kurz nach Mitternacht gehst Du dann vor die Tür, weil Deine Vodka-Red-Bulls nicht mehr im Körper bleiben wollen. Und da triffst Du dann auf mich. Und meine Hand trifft auf Dein Gesicht, als ich Dir zeige, was ich in meinem Krav Maga Kurs gelernt habe.

Hey, unbekannte Person von der Haltestelle Boddinstraße, die mir am Fahrkartenautomaten die EC-Karte geklaut hat. Ich wünsche Dir, dass Du morgen den schönsten Tag Deines Lebens hast... und danach nie wieder ein Tag auch nur annähernd so schön wird.

Übermorgen wirst Du auf der Straße in Deiner eigenen Kotze aufwachen, Dein Kopf ist größer als die Baustelle am Ostkreuz, und es wird keine Stelle Deines Körpers geben, die nicht schmerzt. Du wirst feststellen, dass Dir genau 348,23€ fehlen. Vielleicht kommt Dir der Betrag ja bekannt vor und Du erinnerst Dich an mich. Mit Mühe wirst Du Dich nach Hause schleppen, wo im Briefkasten ein Schreiben liegt, dass man leider einen Zahlendreher im System hatte, und nicht Du, sondern Dein Nachbar ein paar Häuser weiter das Geld gewonnen hat. Jede Deiner drei Eroberungen aus dem Club wird Dir was anderes mitgegeben haben. Tripper, Genitalwarzen... und HIV. Der Hautausschlag hingegen kommt davon, wenn man neue Kleidung vor dem ersten Tragen nicht wäscht. Dein Schwarm aus der Buchhaltung wird Dich aufgrund des Kusses wegen sexueller Belästigung am Arbeitsplatz verklagen. Deinen Job wirst Du nicht wiedersehen, und einen anderen findest Du nicht so schnell. Weil Du selbst gekündigt hast, kriegst Du auch keine Abfindung und kein Arbeitslosengeld. Und mit den ganzen Schulden von Deiner Shoppingtour kannst Du Dir von Hartz IV allein bald nicht mehr die Miete leisten. Oder den Strom für den Fernseher. Oder die Krankenversicherung. Und ohne Krankenversicherung sind die Aids-Medikamente leider zu teuer. Und der Zahnersatz. Und der Spruch "Genitalwarzen: das Noppenkondom der Natur" zieht bei Frauen auch nicht wirklich. Schade, netter Versuch. Du fliegst aus der Wohnung, aber nachdem die Gerichtsvollzieher mit Dir fertig waren, war eh nichts mehr von Wert übrig. Und wenn Du dann an der Haltestelle Boddinstraße stehst und Obdachlosenzeitungen verkaufst, kauf ich Dir eine ab.


Denn ich bin ja nicht nachtragend.

19. November 2009

United States of Utopia

United States of Utopia


Letzte Nacht träumte ich, es käme eine gute Fee zu mir. Sie sagte, ich hätte drei Wünsche frei. Und ich habe gesagt: „Ich wünsche mir Weisheit.“

Denn ich wollte die anderen beiden Wünsche sinnvoll nutzen. Und wie ich so darüber nachdenke, ist mir der zweite Wunsch klar: Bescheidenheit. Denn sonst würde mich der dritte Wunsch nie zufrieden stellen. Und als die Fee nach dem dritten Wunsch fragte, sagte ich:


Stell Dir eine Welt vor, in der alle Menschen plötzlich über Nacht vernünftig werden. Eine Welt, in der die Menschen allesamt die richtige Balance finden. Das richtige Maß. Die richtige Mischung.


Das richtige Maß Toleranz zum Beispiel. Stell Dir eine Welt vor, in der wir keinen Unterschied mehr machen zwischen Hautfarben, Kulturen, Herkunftsland oder Geschmack. Warum sollten wir denn auch einen Unterschied machen? Jeder Mensch ist anders, und das sollten wir feiern, denn die Alternative wäre doch scheiße-langweilig. Stell Dir eine Welt vor, in der wir endlich die Gemeinsamkeiten zwischen Religionen zelebrieren, statt uns weiterhin wegen der paar kleinen Unterschiede zu diskriminieren, zu hassen oder zu töten. Eine Welt, in der wir einsehen, dass Menschen nun einmal unterschiedliche sexuelle Vorlieben haben, die alle gleichermaßen berechtigt sind und auf die wir sowieso keinen Einfluss haben. Solange alle Beteiligten bewusst und aus freiem Willen tun, was sie tun, und solange keiner leidet (es sei denn, er will), gibt es doch keine Probleme. Das einzige, was Schwule und Lesben tatsächlich gefährden, ist ein weiteres Anwachsen der Überbevölkerung auf der Erde.


Stell Dir vor, dass wir alle eine einheitliche Sprache entwickeln, so einfach, dass sie jedem so natürlich wie die eigene Muttersprache vorkommt, und doch so flexibel, dass jeder Witz, jedes Wortspiel, jedes Gedicht funktioniert und so elegant wirkt wie in der Sprache, in der sie ursprünglich verfasst wurden. Wenn alle Menschen das richtige Maß Disziplin besäßen, würden bald alle diese Sprache sprechen. Wir bräuchten keine Grenzen mehr. Keine Kriege. Das Geld, das unsinnig in die Rüstungsindustrie, in die Spionage oder in die Politik gesteckt wird, könnte für Bildung, für Forschung und Entwicklung benutzt werden. Tatsächlich bräuchten wir kein Geld mehr, wenn alle Menschen vernünftig wären. Sie würden alle über genau die richtige Mischung aus Ehrgeiz und Bescheidenheit verfügen. Es wäre eine Welt, in der alle täten, was immer sie können, so gut sie es können. In der jeder jeden Beruf lernen kann, den er will. Und alle würden bekommen, was sie brauchen, alles, was sie wollen, aber es wäre genug für alle da.


Wenn alle das gleiche Maß an Wissensdurst hätten, könnten wir die Erfindungen machen, die wirklich benötigt werden. Wir würden als ein Volk zusammen den Weltraum erkunden. Wir würden lernen, andere Planeten zu terraformen und unseren eigenen zu reparieren. Wir würden keine Atomkraftwerke mehr benötigen. Radioaktive Abfälle würden wie der restliche Müll gefahrlos auf molekularer Ebene auseinandergenommen, um wie Legosteine zu neuen Rohstoffen zusammengesetzt zu werden. Zu Nahrung. Zu frischem Wasser.


Wir würden Hungersnöte beenden. Alle Krankheiten ausrotten. Wir könnten Aids heilen. Parkinson. ADS. Einen Impfstoff schaffen gegen Krebs. Alzheimer. Schluckauf. Wir könnten eine neue, genetisch veränderte Form von Karies schaffen. Kariesbakterien, die sich von Essensresten, Zahnbelag und herkömmlichen Kariesbakterien ernähren, deren Ausscheidungen aber nicht wie bisher den Zahnschmelz angreifen, sondern stärken – und zugleich minzige Atemfrische produzieren. Oder Erdbeer.

Frauen würden nur dann schwanger werden, wenn sowohl sie als auch der potentielle Vater es aktiv wollen. Und es würde nicht mehr wehtun.

Stell Dir...“


Und die Fee sagte: „Okay, okay, ich kann mir das alles vorstellen. Also gut. Ist das Dein letzter Wunsch? Dass die Welt über Nacht so wird?“


Und ich sagte:


Nein. Ich wünsche mir nicht, dass wir über Nacht so werden. Denn dann wüssten wir das alles gar nicht zu schätzen. Ich wünsche mir nicht, dass wir diesen Zustand jemals wirklich zu 100% erreichen. Denn damit kämen wir gar nicht klar. Nein. Ich wünsche mir, dass alle Menschen gemeinsam auf diese Utopie hinarbeiten. Denn nur so können wir jemals glücklich werden.“

11. Oktober 2009

Selbstverliebt

Das wird jetzt eine Reihe, vielleicht sogar ein ganzes Buch.

Selbstverliebt
2003.
"Geh. Es funktioniert ja doch nicht."
"Aber... ich liebe Dich."
"Nein. Du liebst mich nicht. Du hast mich nie geliebt. Du liebst doch nur Dich selbst."
Und mit diesen Worten wurde Claudia vor die Tür gesetzt. Es war die fünfte Beziehung in drei Jahren, die scheiterte. Eine Frau nach der anderen verliebte sich in sie, zog mit ihr zusammen, bloß um dann festzustellen, dass Claudia tatsächlich nichts und niemanden so sehr liebte wie sich selbst. Und so stand sie nun mal wieder mit ihrer Reisetasche, dem Rucksack und der kleinen Topfpflanze nachts im Regen an der Bushaltestelle. Und der Bus war gerade weg.
Frustriert trat sie gegen die Scheibe der Haltestelle. Und da fiel etwas vom Dach. Eine Armbanduhr. Claudia zog sie an. Sie passte. Ein Ring war um das Ziffernblatt herum angebracht. Sie drehte ihn verspielt ein kleines Stück gegen den Uhrzeigersinn. Und der Bus kam zurückgefahren, hielt, und dann fuhr er weiter rückwärts entgegen der Fahrtrichtung. Ein zweiter Bus kam und fuhr, und noch einer, und noch einer, dazwischen zahlreiche andere Autos, alle rückwärts. Es hörte auf, zu regnen, und es wurde wieder hell. Alles innerhalb weniger Sekunden. Claudia drehte sich um. Ihre Sachen, die sie auf die Sitzbank gestellt hatte, waren weg. Claudia kam ein Verdacht. Sie packte den Ring und drehte ihn in die andere Richtung. Autos und Busse fuhren jetzt wieder vorwärts, es wurde wieder dunkel, es begann zu regnen, und dann sah sie sich selbst mit Tasche, Rucksack und Pflanze auf die Bushaltestelle zukommen. Sie sah, wie sie die Uhr fand und verschwand. Ihre Sachen blieben, wo sie waren. Sie nahm die Sachen und brachte sie erst einmal zu ihren Eltern, wo sie immer blieben, bis Claudia wieder zu einer anderen zog. Dann ging sie in den Park, um weiter mit der Uhr zu spielen. Sie sprang drei Jahre in die Zukunft, nach 2006. Soweit sah alles unverändert aus. Sie vergewisserte sich, dass Deutschland nicht zurück zur D-Mark gewechselt ist und kaufte eine Zeitung. Es schien sich wirklich nichts geändert zu haben. Sie hob Geld von ihrer Bank ab, dachte kurz über die Zinsen nach, die man mit einer Zeitmaschine einstreichen konnte, machte dann noch zwei kurze Zeitreisen und staunte dann über die Nullen auf ihrem Konto. Dann ging sie erst einmal feiern. In ihre Lieblingsdisco. Es gab eine neue Türsteherin, die Claudia nicht erkannte. Sie sagte allerdings: "Deine Schwester ist schon drin", was Claudia etwas verwirrte.
Sie betrat die Discothek, bestellte sich etwas zu trinken, ging zur Tanzfläche... und sah sich selbst. Eine etwas ältere Version von sich selbst, aber es war ja auch drei Jahre später. Die ältere Version lächelte ihr zu. Sie tanzten eine Weile zusammen. Die Musik war zu laut, um sich zu unterhalten, also holten sie sich nach einer Weile noch ein paar Drinks und gingen nach draußen.
Dort angekommen, fragte Claudia ihr älteres Selbst aus.
"Wie kann es uns denn zweimal geben?"
"Du vergisst dieses Ding an Deinem Handgelenk. Ich hab auch eine. Ich bin älter als Du. Du wirst in den nächsten drei Jahren einiges erleben. Ich sage nicht zuviel, weil ich damals von mir auch nicht mehr erfahren habe, aber es wird eine schöne Zeit. Und eines Tages wirst Du dann zu mir und reist hierhin zurück."
"Hmmm.,, Ich habe so eine Uhr. Du hast auch eine."
"Dieselbe."
"Funktioniert das auch mit anderen Sachen? Könnte ich einen Goldbarren, den ich hätte, zwei Minuten in die Vergangenheit schicken und hätte dann zwei? Weil... das könnte man ja eigentlich ewig machen und hätte unendlich viele Goldbarren, oder?"
"Nein. Du hättest zwei. Aber nur bis zu dem Moment, in dem der Goldbarren in die Vergangenheit reist. Denn wenn er das nicht tut, wäre es ja immer nur einer gewesen. Er muss zurückreisen. Aber weil nur einer zurückreist, werden es nie mehr als zwei."
"Verstehe ich nicht. Wieso können denn nicht einfach beide zurückreisen? Wären es dann nicht vier?"
"Aber wie lange denn? Die zwei anderen müssten ja doch wieder zurück, damit es überhaupt vier werden können. Und einer muss zurück, damit es überhaupt zwei werden können. Sicher, vorübergehend kannst Du Dir so theoretisch viertausend Goldbarren oder mehr zusammenzeitreisen. Aber so oder so, am Ende bleibt immer nur einer übrig. Du kannst nichts dauerhaft vervielfältigen."
"Hmmm... Ich schätze, das macht Sinn. Schade. Ich hätte gerne uns zwei dauerhaft vervielfältigt."
"Wenn Dir vorübergehend reicht..."
"Kann ich Dich überhaupt berühren? Ich hatte mal einen Film gesehen, in dem die gleiche Materie nicht zweimal den gleichen Raum beanspruchen kann."
"Aber es ist doch nicht die gleiche Materie. Weißt Du, wieviele Hautteilchen Du jeden Tag verlierst? Wieviele Zellen Dein Körper abstößt? Die alle werden ersetzt. Wenn ich Dich berühre..."
Die ältere Claudia berührte die jüngere an der Wange.
"...dann passiert nichts. Da sprühen keine Funken."
Die jüngere Claudia war anderer Meinung. Im Moment passierte eine Menge. Und ob da Funken sprühten. Und die beiden Claudias küssten sich.
Die Türsteherin kam zufällig vorbei und schüttelte angewidert den Kopf.
"Es ist okay, das ist kein Inzest. Wir sind überhaupt keine Schwestern," erwiderte Claudia lächelnd.
Die beiden zogen zusammen. Sie lebten von den Zinsen auf dem Sparkonto, das die jüngere in der Vergangenheit eröffnet hatte. Claudias Exfreundinnen hatten Recht. Sie liebte sich selbst. Doch diese Liebe war ein duplizierter Goldbarren auf Zeit. Sie war nur vorübergehend. Irgendwann musste die jüngere Claudia in der Zeit zurückreisen, um die ältere Claudia zu werden, sonst könnte es diese Liebe nie geben. Je länger sie warteten, desto nachdenklicher wurden beide Claudias. Was würde passieren, wenn die jüngere nicht zurückreiste? Konnte man es wagen? Oder würde sich die ältere automatisch auflösen, retroaktiv aus der Zeit ausgelöscht? Nein, besser nur drei Jahre gehabt und dann verloren zu haben, als nie geliebt zu haben. Und schweren Herzens drehte die jüngere Claudia an ihrer Armbanduhr - und verschwand in die Vergangenheit. Ihr fiel der Abschied leichter. Sie hatte ja noch drei Jahre mit der Liebe ihres Lebens vor sich. Die Ältere hingegen nahm es bedeutend schwerer. Aber... auch sie hatte doch noch ihre Armbanduhr... Und kurz, nachdem ihr die Lösung einfiel, erschien sie auch schon: Eine dritte Claudia, aus dem Jahre 2028, die die gleiche wie die beiden anderen war - und doch eine andere. Älter. Erfahrener. Reifer. Eine, die bereits eine ältere Version von sich selbst neunzehn Jahre lang begleitet, geliebt und gepflegt hat, bis zu deren Tod. Und jetzt würde sie selbst gepflegt. Begleitet. Geliebt. Bis zu ihrem Tod. Eine schöne Vorstellung.
Und die ältere Claudia legte ihre Armbanduhr ab und legte sie auf die Straße. Sie brauchte sie jetzt nicht mehr. Möge sie jemand anderem Glück bringen.
Sie hatte ihres schon gefunden.

28. August 2009

Acedia

Kurzes Intro: Das S.I.N. in Berlin hat im Moment arge finanzielle Probleme. Was verdammt schade ist, weil es eine verdammt geniale Location an der Grenze zwischen Neukölln und Kreuzberg ist, in der ich unter anderem beim ersten Anti-Slam mitmachen durfte. Und um den Laden zu retten, hat Paul Salamone für heute abend den "Save the S.I.N." Abend organisiert, bei dem Autoren, Sänger und andere Kleinkünstler gratis auftreten. Unter anderem bin ich auch dabei. Und weil das ganze ein Themenabend zu den Sieben Todsünden ist, habe ich dazu eine kleine Geschichte geschrieben.



Und Gott sprach: ES WERDE LICHT. Und es ward Licht. Und die, auf die dieses Licht fiel, waren verärgert und wuselten herum auf der Suche nach Deckung. Aber es gab keine Deckung, denn Bäume, Felsen, Tiere, all das war noch nicht erschaffen. Und sie sahen auf ins Licht, und sie verfluchten Seinen Namen. Und er nahm sie und sperrte sie in eine Büchse. Sie, die sieben Schwestern. Einst waren sie Nymphen: Superbia, die Schönheit. Luxuria, die Geborgenheit. Ira, das Temperament. Gula, der Genuss. Die Zwillinge Avaritia, Ehrgeiz, und Invidia, Wettstreit. Und Acedia, die Bescheidenheit.

Aber der Fall hatte sie verändert. Schönheit wurde Eitelkeit, Geborgenheit wurde Verlangen, Temperament wurde Zorn, Genuss wurde Maßlosigkeit, Ehrgeiz wurde Gier, Wettstreit wurde Missgunst. Und Bescheidenheit? Bescheidenheit blieb Bescheiden. Sie wollte damals sowieso nicht bei dieser Rebellion mitmachen, aber ihre Schwestern hatten sie mitgeschleift, es sei zu ihrem Besten. Von wegen. Und so saß Acedia nun mit im Gefängnis und litt. Ira regte ihren Zorn an ihr ab. Gula nahm ihr das Essen weg, Avaritia und Invidia alles andere. Was Luxuria mit ihr anstellte, wollt ihr gar nicht wissen.

Aber dann kam der Tag, an dem Pandora die Büchse öffnete und das Unheil über die Welt brachte. Im Laufe der Jahrtausende waren die Nymphen zu Sirenen ausgewachsen, und davon zogen jetzt sechs los um die Welt zu unterjochen. Bloß eine blieb freiwillig in der Büchse zurück. Acedia. Die Bescheidene. Sie hatte ja alles, was sie brauchte. Was sollte sie in der Welt der Sterblichen?

Doch dann kam Er. „WO SIND DEINE SCHWESTERN?“
„Bin ich meiner Schwestern Hüter? Ich weiß auch nicht, die sind halt weg. Jetzt hab ich endlich meine Ruhe.“
„DU WILLST DEINE RUHE?“
Er packte sie zwischen Daumen und Zeigefinger, holte sie aus der Büchse und sprach: „SPERR DEINE SCHWESTERN WIEDER EIN, DANN HAST DU RUHE.“

Und so zog Acedia los, um ihre Schwestern zu finden. Die erste war nicht zu übersehen. Superbia, die Eitle. Sie hatte sich einen Tempel bauen lassen, wo ihrer Schönheit gehuldigt wurde. Und sie schminkte sich. Und sie frisierte sich. Und sie erbrach sich. Und sie ließ unzählige Modedesigner Kleider für sie entwerfen.

Und Acedia sprach: „Warum die Mühe? Wärst Du nicht auch ohne Schminke, ohne Haarspray, ohne Pfauenfeder und ohne all diese Kleider die Schönste auf der Welt? Wenn Du mich fragst, ist der ganze Aufwand hier nur Zeitverschwendung.“

Superbia antwortete: „Aber wenn ich mir diese Arbeit nicht mache, macht sie sich vielleicht eine andere, und dann bin ich nicht mehr die Schönste auf der W... Moment, Du hast Recht, Schwesterherz. Das geht ja gar nicht. Nichts ist schöner als ich.“

Acedia erwiderte: „In diesem Gefäß ist das einzige, was schöner ist als Du. Wenn Du das vernichtest, dann bist Du auf ewig die Schönste und brauchst Dir gar keine Mühe mehr zu machen.“

„Was?“ fragte Superbia. „Schöner als ich? Nichts ist schöner als ich! Lass sehen!“ Und sie sprang in die Büchse. Und es stimmte. Nichts war schöner als sie. Und in der Büchse war... Nichts.

Acedia schloss die Büchse und lächelte. Dann zog sie weiter.


Die zweite Schwester war Luxuria, die Lüsterne. Auch sie hatte sich einen Tempel bauen lassen, in dem sie angebetet wurde. Und sie mühte sich tagaus, tagein ab, neue Reize, neue Kicks zu finden. Männer, Frauen, Greise, Kinder, Tiere, Pflanzen, vibrierende kleine Apparate in allen Formen und Farben.

Und Acedia sprach: „Warum die Mühe? Warum suchst Du Dir einen sterblichen Partner nach dem anderen? Würde es nicht reichen, bis ans Ende aller Tage mit dem schönsten aller Wesen zusammen zu sein? Wenn Du mich fragst, ist der ganze Aufwand hier nur Zeitverschwendung.“

Luxuria antwortete: „Du hast Recht, Schwesterherz. Für mich ist das Beste gut genug. Und wenn ich das Beste habe, brauche ich mir die Mühe hier gar nicht mehr zu machen. Du hast das schönste Wesen da drin? Lass sehen!“

Und sie sprang in die Büchse. Und es stimmte. Nichts war schöner als Superbia.

Acedia schloss die Büchse und lächelte. Dann zog sie weiter.

Die dritte Schwester war Ira, die Zornige. Sie hatte sich keinen Tempel bauen lassen, sondern ließ Tempel zerstören. Auf ihren Befehl hin legten ganze Armeen alles in Schutt und Asche und wandten sich dann gegeneinander.

Und Acedia sprach: „Warum die Mühe? Warum machst Du Dir die Arbeit, all die Sterblichen Geschöpfe zu bestrafen? Wäre es nicht weniger Arbeit, Dir einen Unsterblichen zu suchen? Einen, den Du in alle Ewigkeit bestrafen kannst? Hier in der Büchse habe ich gleich zwei, und eine davon könnte Deine Strafen vielleicht sogar genießen. Und die andere? Die nicht.“ :)

Ira antwortete: „Du hast Recht, Schwesterherz. Wenn ich Unsterbliche bestrafen kann, brauche ich mir die Mühe hier gar nicht mehr zu machen. Und die hast Du da drin? Lass sehen!“

Und sie sprang in die Büchse. Und es stimmte. Luxuria genoss Iras Peitschenhiebe. Superbia... nicht.

Acedia schloss die Büchse und lächelte. Dann zog sie weiter.

Und sie lockte Gula in die Büchse mit dem Versprechen, darin den größten Genuss zu erleben. Wozu sich die Mühe machen und nach anderen Genüssen suchen?

Und sie lockte Avaritia in die Büchse mit dem Versprechen, darin das wertvollste Gut zu finden. Und darin war: Familie.

Und sie lockte Invidia in die Büchse mit dem Versprechen, dass Avaritia darin das wertvollste Gut besäße.

Und so war Acedia endlich wieder alleine und hatte ihre Ruhe. Doch ihre Reisen, ihre Abenteuer, hatten sie verändert. Sie war nicht mehr länger die Bescheidenheit. Nein, Acedia war die Faulheit geworden. Sie dachte kurz darüber nach, die Welt zu unterjochen, aber es war zuviel Aufwand. Aber dann passierte etwas unvorhergesehenes: Ohne die anderen Schwestern hatten die Menschen keine Sünden, aber auch keine Motivation mehr. Ohne das Verlangen, der Schönste zu sein, ohne Lust, ohne Zorn, ohne Hunger, ohne Gier, ohne Neid blieb den Menschen gar nichts anderes übrig als nichts zu tun. Und Faulheit regierte die Welt.

Und Gott sah, dass es gut war.

12. Juni 2009

Youtube

Nein, kein Gedicht oder Text über Youtube. Stattdessen ein Video bei Youtube vom Poetry Slam in Moers, bei dem ich Ende Mai "Der Geist" gelesen habe. Gefilmt hat Sara Kritzler.

24. Mai 2009

001 100 011

Ja, ich weiß, ich sollte diesen Blog häufiger aktualisieren. Aber ich komme im Moment zu nichts. Wenn ich nicht arbeite, bin ich auf Slams unterwegs (zuletzt bin ich in Berlin bei einem Slam mit "Wie sehr ich Dich mag" herausgeflogen, weil ich laut der Moderatorin darin Männer zu Vergewaltigung animieren soll, ich alter verkappter Frauenhasser...) oder treibe anderweitig meine Mitmenschen in den Wahnsinn. Aber egal. Hier ist ein neuer Text, extra für den heutigen Abend geschrieben, die Stadtmeisterschaft in Bonn, wo ich mich nicht für die diesjährigen Deutschsprachigen Meisterschaften qualifizieren werde, weil die Kollegen Slammer mal wieder deutlich besser sind. Aber egal. Der Titel ist Binär, denn ein bisschen binär schadet nie sehr.

Ach so, und das ganze ist als Rap-Text gedacht. Die 001 100 011-Zeilen muss man sich als Chant vorstellen, der vom Publikum möglichst die ganze Zeit über als Rhythmus durchgehalten wird. Vier-Viertel-Takt, also quasi 001**100011*****. Aber gut jetzt, ich will Euch ja nicht ewig mit langweiligem Intro langweilen.

001 100 011

001 100 011
001 100 011
001 100 011
001 100 011

Auf der letzten Lan-Party ha'm wir ziemlich lang gezockt,
haben von morgens früh um acht bis in die Nacht um vier gerockt,
die ander'n schliefen, ich blieb wach, Red Bull hat meinen Schlaf geblockt,
und was ich dann gesehen hab, hat mich geschockt:
Die Computer war'n noch immer angedockt, immer noch vernetzt.
Ich war entsetzt: Die Rechner hatten Sex! Ehrlich, jetzt,
da tanzten Laptops topless Lapdance
zu Rap-Bands auf den Ipods von Mac-Fans.
Ich sah Sticks in USB-Slots von USB-Sluts,
vier in einer drin - und da war noch mehr Platz
in dem USB-Bus auf der Datenautobahn
ungeschützter Verkehr ganz ohne Virenprogramm

001 100 011
001 100 011
001 100 011
001 100 011

Der nächste Akt der Hardcore-Hardware-Show
war Prozessorfellatio:
Der Lüfter blies fies, aber was ich dann entdeckte -
die Wasserkühlung leckte.
Zwei alte Commodore, die machten langsam schlapp,
sie fuhren hoch - und stürzten dann zusammen ab,
die Vista-Kiste daneben hatte noch einiges vor,
sie flirtete mit dem schärfsten HD-Monitor,
sie verlor ganz entspannt und elegant ihr Gehäuse,
ganz am Rand klickten um den Verstand sich zwei Mäuse,
während die Vista-Kiste weiterstrippte.
Und dabei Pornofilme rippte.

001 100 011
001 100 011
001 100 011
001 100 011

Den Notfall bemerkte ich, weil Modems sich was zuschrien,
ein 386er hatte einen Bluescreen.
Er war zu alt - und als es ihn gepackt hat,
hat er sich mit Viagra übertaktet.
Das war zuviel für sein Motherboard, es qualmte und es stank,
seine Festplatte wurde gerettet, Zuse sei dank.
Silicon Ally gebar ein Netbook, einen Sohn
und der Alte lebte weiter dank Reset-inkarnation.

Ich wurde wach, was für ein Graus, wer denkt sich solche Träume aus?
Ich war nie auf 'ner Lan-Party, und ich mach mir auch nichts draus.
Aber wenn ich d'rüber nachdenke, dieser geile Chor,
der geht mir seitdem nicht mehr aus dem Ohr.

Und der ging 001 100 011...

An der Stelle kann dann das Publikum weitermachen, bis es keine Lust mehr hat. :)

21. März 2009

Glaubenskrise

Und der zweite SF-Text für den Slam heute abend.

Glaubenskrise

Bruder Benedikt war zwar gläubig, aber nicht dumm. Er wusste, dass die Welt nicht in sieben Tagen entstanden war. Er wusste, dass der Mensch nicht aus Lehm geformt wurde, sondern die Evolution den Homo Sapiens vom Einzeller über den Mehrzeller, über den Quastenflosser, die ersten Säugetiere und so weiter entwickelt hatte. Aber das hieß ja nicht, dass Gott nicht dahinter steckte. Immerhin gab es in der Evolution ja enorme Sprünge. Der am besten angepasste Organismus gibt sein Erbmaterial weiter. Aber wer, wenn nicht Gott, sorgte denn dafür, dass einzelne Organismen plötzlich besser angepasst waren? Dass sich so hochkomplizierte Gebilde wie ein Auge oder der Gleichgewichtssinn über zahllose Generationen hinweg entwickeln, lange bevor sie funktionieren und der Träger der jeweiligen Gene einen Vorteil durch sie erlangt? Wer, wenn nicht Gott, hat uns denn die Fähigkeit gegeben, miteinander zu kommunizieren und unser Wissen auszutauschen? War die Seele Teil der natürlichen Selektion?

Nein, für Bruder Benedikt war eins klar: Auch wenn die frühen Kapitel der Bibel teilweise eher metaphorisch aufzufassen sind und mit den begrenzten wissenschaftlichen Mitteln der damaligen Zeit Antworten auf Fragen nach der Entstehung der Erde oder der einzelnen Arten bieten sollten, so zweifelte er nicht an der Wahrheit der späteren Bücher der Bibel. Er glaubte, dass Gott Moses half, sein Volk aus der Sklaverei in Ägypten zu befreien und zum gelobten Land zu führen. Dass er zu Jonas, Jeremiah und Jesaja sprach. Dass er sich selbst als seinen Sohn zu uns schickte und opferte, um die Sünden der Menschen auf sich zu nehmen. Auch wenn Gott uns nicht wie einen Golem aus Ton formte, oder aus einer Rippe, so sind wir doch seine Kinder, nach seinem Bild erschaffen. Die Krone der Schöpfung.

Man kann sich also Bruder Benedikts Verwunderung vorstellen, als er eines Tages im Klostergarten ein metallenes Ei von der Größe eines Kleinwagens fand. Es war glatt und völlig gleichmäßig, Benedikt konnte keine Spalten, Scharniere oder Schrauben erkennen. Und doch teilte es sich in zwei Hälften wie eine Kinderüberraschung, als Benedikt vorsichtig näher kam. Der Inhalt des Objektes machte es nicht besser: Ein Lebewesen mit großem, halb durchsichtigen Kopf und zahllosen kleinen Tentakeln wie eine Qualle. Es hatte drei riesige Augen, gleichmäßig um den Kopf herum verteilt, und blinzelte ihn an. Auf der Ei-Innenseite leuchteten diverse Lichter und Bildschirme.

Bruder Benedikt blieb stehen. Er legte vorsichtig seinen Rechen zu Boden, damit das Wesen diesen nicht für eine Waffe hielt. Dann machte er das Kreuzzeichen, räusperte er sich und wandte das Wort an sein groteskes Gegenüber.

"Kannst Du mich verstehen?"

Das Wesen reagierte nicht, blinzelte ihn bloß weiter an. Dann streckte es seine Tentakel aus und berührte damit unterschiedliche Schaltflächen.

"Mein Name ist Benedikt. Wer bist Du, und wo kommst Du her?"

Es brauchte noch ein paar Minuten, bis das Raumschiff genügend Sprachdaten von Benedikt gesammelt hatte, um rudimentär dolmetschen zu können. Dazu wandelte es Benedikts Fragen in Farben um, die einer der Monitoren anzeigte. Das quallenartige Wesen antwortete, indem sein Kopf in unterschiedlichen Farbtönen leuchtete, was das Schiff wiederum in für Benedikt verständliche Sprache umwandelte.

NAME IST [unübersetzbar]. KOMME VON PLANET [unübersetzbar]. KOMME IN FRIEDEN. TEIL EINER GRUPPE WISSENSCHAFTLER. ZIEL NEUE PLANETEN FINDEN. DENN [unübersetzbar] ÜBERBEVÖLKERT. TELESKOP SAH DEINEN PLANET. EIN GROSSES LAND, REST WASSER, MÜSSEN NICHT [unübersetzbar]FORMEN. 300 MILLIONEN LICHTJAHRE MIT RAUMKRÜMMUNG ÜBERBRÜCKT. PLANET SIEHT AUS NÄHE UNERWARTET AUS.

Benedikt überlegte.
"Wenn Dein Planet 300 Millionen Lichtjahre entfernt ist, dann haben Eure Teleskope 300 Millionen Jahre alte Bilder eingefangen. Das war ja noch vor den Sauriern!"

VERÄNDERUNGEN MIT EINGERECHNET, AUSMASS HAT TROTZDEM ÜBERRASCHT. KEIN ANDERER BEKANNTER PLANET HAT SICH SO SCHNELL ENTWICKELT WIE… ERDE. ERDENSPEZIES MACHT SCHRITTE INS ALL. HINTERLASSEN DABEI SCHROTT. ALTE TREIBSTOFFTANKS, SATELLITEN… BEI WIEDEREINTRITT AUS HYPERRAUM WURDE DAVON SCHIFF BESCHÄDIGT. KONNTE MIT RETTUNGSKAPSEL MEIN LEBEN RETTEN. BRAUCHE HILFE. BRAUCHE WASSER.

Benedikt griff nach der Gießkanne und lief zum Klosterteich. Dort angekommen, füllte er die Kanne mit Wasser und machte sich auf den Rückweg. Erst jetzt erholte er sich langsam von seinem Schock und zählte zwei und zwei zusammen. Ein außerirdisches Lebewesen. Ein Wesen von einem anderen Planeten, mit Bewusstsein, mit der Fähigkeit zu kommunizieren. Und technisch weitaus fortgeschrittener als Menschen. Aber wie kann das sein? Hatte Gott uns nicht nach seinem Ebenbild erschaffen? Sind wir nicht seine geliebten Kinder? Aber wer waren denn dann die? Und davon mal abgesehen: Was wird denn passieren, wenn es bekannt wird, was hier im Klostergarten gelandet ist?
Dies war eine zynische Welt, und es gab kaum noch Menschen, die an Gottes Liebe glaubten. Im Vatikan wurden schwer nachvollziehbare Entscheidungen getroffen. Wenn jetzt bekannt würde, was Bruder Benedikt hier gefunden hat, gäbe es erst recht eine weltweite Glaubenskrise. Die Bibel erwähnt kein Leben auf anderen Planeten, also würde die breite Masse vermutlich einen Widerspruch sehen. Und in der aktuellen Zeit könnte das ein Widerspruch zuviel sein. Er musste den Außerirdischen irgendwie loswerden, bevor ein anderer Bruder ihn fand und womöglich die Medien verständigte.
Er holte eine Bibel aus seinem Habit und schlug wahllos eine Stelle auf. Eine liebgewonnene Gewohnheit in Situationen, in denen Benedikt nicht weiterwusste.

Psalm 139, 19 bis 22
19Ach Gott, dass du den Gottlosen tötetest und die Blutgierigen von mir weichen müssten! 20Denn sie empören sich arglistig wider dich; deine Feinde erheben ihre Hand zur Lüge. 21Sollte ich nicht hassen, die dich, HERR, hassen, und keinen Abscheu empfinden vor deinen Widersachern? 22Ich hasse sie mit vollkommenem Hass, sie sind mir zu Feinden geworden.

Wie konnte dieses groteske Geschöpf ein Werk Gottes sein?
Er leerte die Gießkanne auf dem Rasen. Dann ging er zu dem kleinen Schuppen, in dem in den Wintermonaten der Grill gelagert wurde, um das Wasser in der Kanne mit flüssigem Grillanzünder zu ersetzen. "Du sollst nicht töten" bezog sich auf Menschen, nicht auf Tiere, folglich auch nicht auf dreiäugige Quallen aus dem Weltall.
Er sprach noch ein Gebet und ging zurück zum Raumschiff. Mit Tränen in den Augen übergoss er das Wesen mit dem Inhalt der Kanne. Er wollte es nicht tun, aber es war der einzige Weg. Das Wesen leuchtete in den kräftigsten Farben.

NEIN. NICHT. [Unübersetzbar], HILFE!

Benedikt griff nach der Spitzhacke und erschlug den Besucher. Dieser blinkte noch einmal in den lautesten Farben auf und wurde dann langsam blass. Der Bordcomputer übersetzte sein Todesröcheln:

GLAUBE AN [Unübersetzbar], VATER, ALLMÄCHTIG. SCHÖPFER VON HIMMEL UND [Unübersetzbar]. UND AN [Unübersetzbar], SEINEN EINGEBORENEN SOHN, UNSEREN HERRN…

16. März 2009

Zwischen den Zeilen

Am 21.03. ist in Dortmund ein Poetry-Slam mit dem Thema "Science-Fiction". Und weil sich mein Umzug nach Berlin (voraussichtlich für insgesamt ein halbes Jahr oder so) noch ein bisschen verschiebt, werde ich da wohl antreten. Also habe ich zu dem Thema eine Kurzgeschichte geschrieben. Das aktuelle Hauptproblem ist, dass die Geschichte noch ein wenig lang ist. Mal sehen, vielleicht lässt die sich ja in zwei Hälften splitten. Egal, hier erst einmal die Rohversion:


Zwischen den Zeilen

Als Dominik Rakers auf dem Heimweg vom Schützenverein diese Uhr fand, ahnte er noch nicht, dass sie sein komplettes Leben verändern, ja, sogar letztlich beenden würde. Es war eine etwas altmodische Uhr, allem Anschein nach in den achtziger Jahren entstanden. Ein überdurchschnittlich großes Zifferblatt, ein Armband aus billigem Metall, und ein Ring um das Ziffernblatt herum, der Tauchern für gewöhnlich anzeigen soll, wie lange sie unter Wasser sind. Dominik hätte die Uhr besser liegenlassen, oder besser noch, zerstören sollen. Aber unwissend wie er war, hielt er den Fund für einen Glücksfall. Mit einem stolzen Grinsen band er sie um sein Handgelenk und hielt dieses an sein Ohr. Die Uhr tickte leise, aber regelmäßig. Dominik ging pfeifend nach Hause.

Im Flur glich er die Uhrzeit mit der auf seiner Funkwanduhr ab. Sie stimmte auf die Sekunde. Dominik ging in die Küche und setzte einen Topf mit Wasser für Spaghetti auf den Herd. Er stellte die Küchenuhr auf sechs Minuten, ging ins Wohnzimmer und nahm auf der Couch Platz. Erneut fiel sein Blick auf seine neue Armbanduhr. Eigentlich ein hässliches Ding, aber einem geschenkten Gaul schaut man ja nicht ins Maul. Seine Finger fanden den Weg zu diesem Ring auf der Uhr. Etwas geistesabwesend drehte er ihn ein Stück im Uhrzeigersinn. Durch den Gestank, der plötzlich aus der Küche drang, fiel ihm nicht auf, dass die Zeiger der Uhr ihre Karussellfahrt beschleunigten, oder dass der Ring wie durch eine Feder wieder auf die Ausgangsposition zurückschnappte.

Er raste in die Küche, der Nudeltopf war leer, vom Boden stieg ein beißender Rauch auf. Wie konnte das Wasser so schnell verkochen, er war doch keine zwei Minuten nebenan? Die Küchenuhr stand wieder auf Null und hatte doch nicht geklingelt… Er sah auf die Armbanduhr – er hatte eine dreiviertel Stunde verloren. Dominik nahm den Herd vom Topf, stellte ihn in die Spüle und drehte das heiße Wasser auf. Es zischte und qualmte. Der Topf war nicht mehr zu retten. Merkwürdig. Er schaltete den Herd aus und den Fernseher ein. Der Lotto-Jackpot war geknackt, aber der Gewinner hatte sich noch immer nicht gemeldet.

In der Nacht schlief Dominik nur schlecht, der Geruch des angebrannten Topfes hing immer noch in der Luft. Am nächsten Morgen überhörte er den Wecker und verließ das Haus eine halbe Stunde zu spät. Er eilte zur Bushaltestelle, blieb aber mit dem linken Arm an der Haustür hängen. Mit der rechten Hand befreite er die linke und merkte dabei gar nicht, dass er dabei wieder an den Ring seiner Uhr griff und diesen ein kleines Stück gegen den Uhrzeigersinn drehte. Auch nahm er nicht die Person wahr, die hinter dem Auto seines Nachbarn hockte und ihn beobachtete.

Erneut schnappte der Ring unbemerkt zurück, erneut drehten sich die Zeiger – diesmal verkehrt herum. Dominik erreichte die Bushaltestelle und sah auf die Uhr. Er war zwei Stunden zu früh dran. War die Armbanduhr jetzt doch kaputt? Nein, ein Blick auf die Handyuhr bestätigte die Zeit. Ebenso die Kirchturmuhr auf der anderen Straßenseite. Dominik ging etwas ratlos zurück nach Hause, jetzt war ja doch noch Zeit für ein längeres Frühstück. Doch aus dem Schlafzimmer hörte er ein Schnarchen. Auf Zehenspitzen schlich er hinein, aber dort im Bett – lag er selbst. Er versuchte, sein schlafendes Ich zu wecken, aber ohne Erfolg.

Der wache Dominik schaltete den Wecker aus und setzte sich neben das Bett, um abzuwarten, was passiert. Doch er verlor die Geduld und ging in die Küche, um sich einen Apfel zu holen. Als er zurückkam, war das Bett leer, dafür drang das Geräusch von fließendem Wasser aus dem Bad. Dominik biss in den Apfel und verließ die Wohnung. Er wollte eine direkte Konfrontation jetzt doch vermeiden und sich zunächst einmal weiter beobachten. Das ganze war doch bestimmt sowieso ein Traum, und da sind solche plötzlichen Sinneswandel doch ganz normal.

Er duckte sich hinter das Auto vor der Wohnungstür und wartete. Siehe da, der andere Dominik verließ das Haus – und blieb mit dem Ärmel in der Haustür hängen. Déjà Vu. Dominik 1 beobachtete, wie Dominik 2 an sein Handgelenk fasste und dabei an der Uhr drehte – und verschwand. Dominik rechnete zwei und zwei zusammen: Er war jetzt doch wieder zu spät zur Arbeit. Es sei denn… Er sah auf seine Uhr. Er nahm den nächsten Bus zum Büro. Dort angekommen, sah er seine Uhr an. Er spielte damit herum. Er drehte den Ring im Uhrzeigersinn. Die Zeiger rasten vorwärts, und es dämmerte im Zeitraffer. Dominik drehte den Ring zurück – und sah zu, wie sich die Zeiger rückwärts bewegten – und die Zeit gleich mit. Dominik war noch nie so pünktlich wie heute. Mit einem Lächeln auf den Lippen betrat er das Firmengebäude. Er begann, die Möglichkeiten zu erkennen, die ihm die Uhr bot. Nach Feierabend fuhr er nach Hause und spulte wieder zum Vormittag zurück. Mit der Uhr hatte er jetzt soviel Freizeit wie er wollte. Mal was anderes… Er drehte den Ring bis zum Anschlag nach vorne. Mal schauen, was die nächsten Jahre so passiert. Es wurde dunkel und wieder hell, dunkel, hell, immer und immer schneller. Irgendwann ließ er los und sah, wie der Ring zurückschnappte. Er sah von der Uhr auf – und in den Lauf einer futuristisch anmutenden Handfeuerwaffe. Sein Instinkt übernahm, und er entwaffnete den alten Mann, der ihm gegenüberstand, im Handumdrehen. Wortwörtlich. Er richtete die Waffe auf den Großvater. Doch der zog blitzschnell eine weitere Pistole und richtete sie auf Dominik. Dominik drückte ab, ein-, zweimal. Der alte Mann ging zu Boden. Auch er drückte ab, aber die Pistole klickte nur.

"Die Waffen – ich habe sie verwechselt. Aber wie…?" Blut lief aus seinem Mund, und er regte sich nicht mehr. Dominik sah sein Gegenüber genauer an. Dieses Muttermal auf der linken Wange kannte er doch. Das Bild, dass ihm täglich aus jedem Spiegel entgegensah, trug das gleiche auf der rechten.

Er zog dem alten Mann das Hemd hoch: Tatsächlich, die Narbe seiner Blinddarm-Operation. Er hatte gerade sich selbst getötet. Er sah sich um. Doch, das war immer noch seine Wohnung. Viel moderner und um einiges teurer eingerichtet, aber unverkennbar sein Stil. Er schaltete den riesigen Flatscreen-Fernseher ein, den er sich offenbar irgendwann kaufen würde und schaltete auf einen Sender mit Nachrichten. Laut dem Datum in der oberen rechten Ecke war er achtundvierzig Jahre in die Zukunft gereist. In achtundvierzig Jahren würde er sterben. Er griff an seine Uhr und reiste zurück. Immerhin hatte er jetzt achtundvierzig Jahre Zeit, seinen Tod zu verhindern.

Wieder zuhause, ging Dominik seine Optionen durch. Er musste die Zeit ändern. Aber kann man das überhaupt? Er wagte ein Experiment. Er spulte bis zum letzten Samstag zurück und betrat ein Lotto/Toto-Geschäft. Er schnappte sich einen Lottoschein und füllte ihn aus. Die Zahlen kannte er, denn die Ziehung in ein paar Stunden hatte er bereits vor ein paar Tagen gesehen. Die Quittung nahm er mit nach Hause. Jetzt müsste er sie nur noch so hinterlegen, dass sein jüngeres Ich sie findet. Er klebte den Zettel mit Tesafilm an seinen Badezimmerspiegel. Dann reiste er wieder zurück in die Gegenwart. Die Wohnung war unverändert. Er sah über das Internet nach seinem Kontostand. Im Minus, aber noch innerhalb seines Dispo-Rahmens. Sollten da nicht mehrere Millionen draufsein? Er ging zurück ins Badezimmer. Keine Quittung. Allerdings… war an der Stelle, an die er das Tesafilm geklebt hatte, nicht weniger Staub als darum herum? Er suchte das Badezimmer ab. Und siehe da: Unter dem Waschbecken fand er die Quittung. Der Kleber hatte scheinbar nicht gehalten, und der Zettel hatte sich abgelöst. Dadurch hatte sein jüngeres Ich ihn nicht gefunden. Aber… die Quittung war ja noch immer gültig. Er ging zum Lottoladen. Und gewann den Jackpot. 15 Millionen Euro. Und achtundvierzig Jahre Zeit zum Geldausgeben. Aber hatte er eigentlich etwas geändert? Schwer zu sagen. Vage fiel ihm die Nachrichtenmeldung vom Vorabend ein. Der Jackpot sei geknackt, der Gewinner habe sich aber noch nicht gemeldet. War er zu diesem Zeitpunkt bereits der Gewinner? Hatte er sich bloß nicht gemeldet, weil er die Quittung nicht auf dem Badezimmerfußboden gefunden hatte? Wenn er nicht zurückgereist wäre… hätte es dann überhaupt einen Jackpotgewinner gegeben? Er griff zu seiner Uhr und reiste wieder zu Samstag zurück, an einen Moment, kurz nachdem er die Quittung an den Spiegel geklebt hatte. Und siehe da: Sie war noch dort. Er zog sie ab und ging in die Küche, um sich einen anderen Ort dafür auszusuchen. Er klebte die Meldung an den Kühlschrank. Hier musste sie ins Auge fallen. Er drehte sich herum… und sah sich selbst. Okay, das ist der Beweis. Er konnte sich nicht daran erinnern, sich selbst in der Küche getroffen zu haben, also musste diese Szene neu sein.

"Bevor Du Dich erschrickst, keine Sorge. Ich bin Du. Du bist ich. Ich bin aus der Zukunft gekommen, um Dir diesen Lottoschein zu g…"

"Halt die Klappe, das weiß ich alles selber. Das Wir von jetzt gerade ist nicht zuhause. Und ich bin ein halbes Jahr älter als Du. Hör zu. Du kannst hier gerne noch ein bisschen rumprobieren, aber eines habe ich festgestellt. Wir können die Zeit nicht verändern. Was geschehen ist, ist geschehen, wir erinnern uns ja daran. Und die Zukunft, die wir uns ansehen, wird genauso passieren. Wenn Du versuchen würdest, Hitler als kleines Kind zu töten, würde es nicht funktionieren. Denn Hitler hätte jedes Attentat überlebt. Er wurde erwachsen, er wurde Reichskanzler und GröFaz und riss halb Europa ins Verderben. All das ist wirklich passiert und steht in den Geschichtsbüchern. Es gibt genügend Zeitzeugen von damals, die sich genau daran erinnern. Daran gibt es nichts zu rütteln. Wenn Du versuchst, ihn zu erschießen, würde Deine Waffe klemmen, oder die Patronen wären nicht in Ordnung. Du kannst die Geschichte nicht verändern. Denn von der Gegenwart aus ist sie ja bereits geschehen. Das bedeutet aber auch, dass alles, was Du bei einer Reise in die Vergangenheit tust, bereits geschehen ist. Und wenn man das ganze jetzt aus der Zukunft betrachtet, dann ist die Gegenwart bereits geschehen. Ändern kannst Du nur, woran sich niemand erinnern kann. Das, was zwischen den Zeilen der Geschichtsbücher steht. Wie der Lottogewinn. Es gab einen Gewinner, und das waren schon immer wir. Und der hat sich nicht gemeldet, weil wir es noch gar nicht wussten. Jeder Versuch, das zu verändern, wird scheitern. Denn hätten wir den Zettel vor der Uhr hier gefunden, dann würden wir zwei uns doch daran erinnern. Und würdest Du jetzt bis Montag springen und es dann versuchen, würde es auch nicht klappen. Vielleicht ist die Lottoannahmestelle geschlossen, oder Du würdest auf dem Weg dorthin von einem Auto angefahren und ins Krankenhaus gebracht, bis der Laden zu ist. Denn hätte ich den Zettel eingelöst, würden wir uns nicht an die Nachrichtenmeldung erinnern, der Gewinner habe sich noch nicht gemeldet."

"Aber… was ist denn dann mit freiem Willen?"

"Oh, Du kannst Dich entscheiden, wie Du willst. Aber Du kannst nur so wollen, wie es das Schicksal will."

"Schopenhauer. Der Mensch kann tun, was er will, aber nicht wollen, was er will."

"Korrekt. Mit anderen Worten: Du kannst nichts ändern, von dem Du weißt, das es bereits passiert ist. Du kannst die Lottoquittung nur zurück unter das Waschbecken legen, damit Du sie am nächsten Mittwoch finden konntest. Und in einem halben Jahr wirst Du ich sein und an diesen Punkt in der Zeit zurückkehren, um mit Deinem jüngeren Selbst diesen Dialog zu führen."

"Zeitreisegrammatik ist kompliziert. Aber was heißt das für unser Problem?"

"Alles, woran Du Dich erinnerst, ist bereits geschehen. Und das schließt eben leider auch den Teil der Zukunft ein, an den Du Dich erinnerst. Du hast also achtundvierzig Jahre Zeit, um 15 Millionen auszugeben. Aber sieh es positiv: Du weißt jetzt, wann Du stirbst. Das heißt auch, dass Du nicht vorher sterben kannst. Du gewinnst jede Runde Russisches Roulette. Du bist immun gegen alle tödlichen Krankheiten. Du wirst jeden Autounfall weitestgehend schadenfrei überleben."

"Weitestgehend?"

"Na ja, hast Du unser altes Ich auf irgendwelche Glasaugen, Beinprothesen oder so etwas untersucht?"

"Ich verstehe."

"Nein, noch nicht. Daran würde ich mich erinnern. Aber Du fängst langsam an, zu verstehen. Und in den kommenden Wochen und Monaten wirst Du immer mehr herausfinden, bis Du zu dem Wissensstand kommst, den ich habe."

"Hmmm… okay. Hey, solange wir noch hier sind… Lust auf eine Partie Schach? Du wärst endlich mal ein gleichwertiger Gegner."

"Nein, wäre ich nicht. Ich wüsste jeden Deiner Züge, weil ich ihn selbst schon gemacht hätte. Mach's gut."

Und der ältere Dominik drehte an seiner Uhr und verschwand.

Achtundvierzig Jahre später. Dominik hatte ein langes und erfülltes Leben. Er hatte noch noch ein paar Mal im Lotto gewonnen, immer kleinere Beträge, damit es nicht auffiel. Er hatte äußerst gewinnbringend am Aktienmarkt spekuliert und ein Vermögen gemacht. Jahrzehnte lang hatte er das Leben in vollen Zügen genossen, hatte mit Drogen und Frauen experimentiert und alle Extremsportarten durchprobiert, die es gab. Doch je näher es auf seinen Todestag zuging, desto mehr Angst hatte er vor dem Tod. Und er begann, sich zu fragen, warum er überhaupt mit den Pistolen herumhantiert hatte, beziehungsweise herumhantieren wird. Sein künftiges Ich hätte doch ebenfalls wissen müssen, dass er als junger Mann auf einer Zeitreise sich selbst in vermeintlicher Notwehr töten würde. Sein jüngeres Ich hätte er doch gar nicht töten können, sonst hätte es ihn selbst doch gar nicht gegeben. Und eines Tages kam ihm die Idee.

Er steckte die eine Pistole ein, und wartete, mit der anderen Pistole auf den Punkt in seinem Wohnzimmer zielend, an dem sein jüngeres Ich sich gleich materialisieren würde. Der junge Dominik erschien, den Blick auf seine Uhr gewandt. Er sah sein älteres Selbst an, unwissend, wer ihm da gegenüberstand. Der alte Dominik wehrte sich nicht, als der junge ihm die Waffe entriss. Er hatte einen Plan. Er griff nach der zweiten Waffe und drückte ab. Klick. Klick. Der Junge schoss.

Der Alte ging zu Boden: "Die Waffen – ich habe sie verwechselt. Aber wie…?"

Dann zerbiss er die Blutkapsel, die er in der Wange versteckt hatte.

Der Junge untersuchte sein künftiges Selbst flüchtig und verschwand. Der Alte nahm die "Tatwaffe", die der Junge fallengelassen hatte, und entnahm die restlichen Platzpatronen. Er lächelte. Natürlich hatte er die Waffen nicht verwechselt. Den Satz hat er nur gesagt, weil er ihn als junger Mann von sich selbst gehört hatte. Den Teil konnte er nicht verändern. Er hatte nur auf das Einfluss, woran er sich selbst nicht erinnerte. Er hatte die Waffe doch nie untersucht. Er hatte stets angenommen, dass scharfe Munition darin war, aber zweifelsfrei gewusst hatte er das nicht.

Der alte Dominik Rakers lachte. Er lachte laut auf, er war dem Tod von der Schippe gesprungen. Er hatte keinen Timer mehr, der ihm ständig seine eigene Sterblichkeit vor Augen hielt. All die Jahre hatte er umsonst Angst vor diesem Tag gehabt. Er lachte, wie er noch nie zuvor gelacht hatte.

Dann griff er sich ans Herz. An das von jahrzehntelangem Drogenkonsum und übermäßigem Adrenalin arg in Mitleidenschaft genommene Herz. Das Herz, das nun aufhörte, zu schlagen. Er hatte den Tod besiegt und seine Todeszeit herausgezögert. Um genau sechzehn Minuten.