17. Oktober 2010

Sterben nach Wunsch

Steffen Rademacher war kein impulsiver Mensch. Das war er noch nie. Solange er zurückdenken kann, war er zuverlässig wie ein Uhrwerk und hielt seinen Zeitplan penibel ein. Aufstehen um 6:30, Frühstück und Tageszeitung bis 7:05, abspülen, abtrocknen, duschen, rasieren, Zähne putzen. Er hatte für jeden Tag in der Woche eine bestimmte Krawatte und ein bestimmtes Abendessen (Montags gab es Kartoffeln, Dienstags und Donnerstags Nudeln, Mittwochs gab es Reis. Freitags Auflauf. Samstags wieder Kartoffeln. Sonntags aß er auswärts). Dreimal im Jahr ging er zu seinem Hausarzt, viermal im Jahr zum Zahnarzt, einmal im Jahr zum Augenarzt. Krank war er nie, und er gab auch nie vor, es zu sein. Steffen Rademacher litt nicht unter Zwangsneurosen. Er war einfach gründlich.

Jeden Morgen von Montag bis Freitag fuhr er mit dem Bus zur Arbeit. Jeden Morgen stieg er um 8:16 in den Bus. Jeden Morgen fuhr er 15 Stationen. Jeden Morgen verließ er den Bus um durchschnittlich 8:42, plusminus vier Minuten, je nach Verkehrslage. Es war eine wenig aufregende Busstrecke, aus der Stadt heraus, an Feldern vorbei, durch einen Wald, zurück in die Stadt, angekommen. Nachmittags dann die gleiche Strecke zurück. Steffen nutzte die Zeit, um sich von seinem Ipod Hörbücher vorlesen zu lassen. Dabei hatte er im Laufe der Jahre einen Automatismus entwickelt, der verhinderte, dass er das Aussteigen vergaß. Die einzelnen Haltestellen, die außerhalb des Busses dahinzogen, nahm er deswegen schon lange nicht mehr wahr. Mit einer Ausnahme: Jedes Mal fuhr der Bus fünf Minuten lang herum und hielt an einer Haltestelle mitten im Nirgendwo. Nie stieg jemand dort aus. Nie stieg jemand dort ein. Steffen dachte nie lange genug darüber nach, um sich beim Verkehrsunternehmen nach dem Grund dieses Umwegs zu erkundigen, außerdem vergaß er den Namen der Haltestelle immer wieder. Und doch wunderte er sich jeden Tag auf's Neue, warum diese Haltestelle eigentlich existierte.

Eines Tages gab es in Steffens Büro einen Stromausfall. Schnell stellte sich heraus, dass das gesamte Gebäude betroffen war – und dass es den Rest des Tages dauern würde, den Fehler zu beheben. Steffen stieg also in den Bus nach Hause und schaltete seinen iPod ein. Kurz darauf entschied er sich spontan, heute an der mysteriösen Haltestelle im Wald auszusteigen. Hätte ihn später jemand gefragt, warum er das tat, er hätte es nicht beantworten können. Es war keine Neugier, die ihn aus dem Bus trieb. Es war keine Langeweile oder die Frage, was er mit dem unerwartet freien Nachmittag anfangen sollte. Er tat es einfach.

Laut Fahrplan fuhr der Bus alle zehn Minuten. Steffen nahm sich vor, die Gegend um die Haltestelle herum fünf Minuten lang zu erkunden. Sollte er nichts finden, würde er einfach zurückgehen und den nächsten Bus nehmen.

Er atmete die kühle Waldluft ein und genoss für einen Moment die Stille. Dann fiel ihm auf, dass der Wald eigentlich gar nicht still sein dürfte. Das Rauschen des Windes in den Bäumen, das Zwitschern der Vögel, das Hämmern der Spechte, das Rascheln von unzähligen Kleintieren am Boden... all das fehlte. Steffen sah sich um. Da war kein Weg, der in den Wald führte, auf keiner Seite der Straße, also ging er einfach darauflos, zwischen den Bäumen hindurch. Nach einer Weile fand er ein kleines Gebäude. Zwei Stockwerke, mit einem Ladenlokal im Erdgeschoss. Auf der Schaufensterscheibe stand in goldenen Buchstaben:


STERBEN NACH WUNSCH


Im Schaufenster selbst stand eine große Sanduhr aus schwarz gebeiztem Holz, dahinter hing ein schwerer, weinroter Vorhang. Steffen sah sich um, es war das einzige Gebäude weit und breit. Wie hieß nochmal die Haltestelle? Er hatte es schon wieder vergessen. Genauso unerklärlich, wie er aus dem Bus ausgestiegen war, öffnete er jetzt die Tür und betrat das Geschäft. Innen sah er nur einen kleinen Tresen mit einem Telefon, dahinter kauerte eine uralte Frau. Vor dem Tresen stand ein Stuhl. Ansonsten war der Raum leer. Die Wände waren weiß, der Fußboden mit schwarzem Teppich ausgelegt. Es gab keine weitere Tür, kein Fenster. Neonröhren an der Decke erhellten den Raum.

Es roch stark nach Zimt und leicht nach Chlor. Die alte Dame sah Steffen in die Augen und fragte:

"Wie kann ich Ihnen helfen?"

"Ähm... ich... Verzeihung, was genau ist das hier für ein Laden?"

"Hier kann man den Tod kaufen."

"Ist das legal?"

"Es ist nicht verboten."

"Nun... dann wünsche ich noch einen schönen Tag. Ich kenne niemanden, den ich tot sehen will, und auch ich selbst möchte noch nicht sterben."

"Oh, da liegt ein Missverständnis vor. Sie müssen keinen Tod für heute aussuchen. Wobei das natürlich das günstigste Angebot wäre."

"Das günstigste Angeb... Hören Sie, ich will mich überhaupt nicht von einem Ihrer Mitarbeiter töten lassen, weder heute noch an irgendeinem anderen Tag."

"So etwas wie Mitarbeiter haben wir hier nicht. Das hier ist ein kleines Familienunternehmen. Hier gibt es nur meine beiden Schwestern und mich. Und sterben müssen Sie ja sowieso irgendwann. Bei uns können Sie entweder eine Todesart oder den Todestag aussuchen, natürlich gegen eine entsprechende Gebühr. Beides zusammen geht nicht, etwas Spannung muss Ihnen ja erhalten bleiben."

"Wie soll das denn gehen, Todestag aussuchen? Sie können doch nicht entscheiden, wann es mich erwischt?"

"Stimmt. Aber Sie können das. Die Preise reichen von 'zu früh von uns gegangen' für ein Versterben noch heute bis hin zum Modell 'Methusalem', bei dem Sie ein dreistelliges Alter zum Zeitpunkt des Todes hätten."

"Und darauf fallen Leute herein? Wie soll das denn gehen? Ich meine, wenn ich jetzt einen Todestag in, sagen wir mal 50 Jahren kaufen würde, wer garantiert Ihnen denn, dass ich nicht schon morgen von einem Auto überfahren werde? Wenn ich morgen sterbe, ist es doch egal, was ich heute hier kaufe."

"Wenn Sie einen Todestag in 50 Jahren erwerben, dann werden Sie nicht morgen sterben. Genau das ist die Dienstleistung, die wir hier anbieten. Wobei 50 Jahre auch schon im gehobenen Preissegment zu finden sind. Ich meine, Sie sind jetzt wie alt, Herr Rademacher? 40, 42 Jahre?"

Steffen nickte, auch wenn er sich nicht daran erinnern konnte, ihr seinen Namen genannt zu haben.

"Ja, 42 Jahre ist korrekt."

"Sehen Sie, dann würden Sie im Alter von 92 sterben. Das zählt schon als 'überdurchschnittliche Lebenserwartung'."

"Ich verstehe immer noch nicht, wie Sie dieses Alter denn garantieren können. Ich meine, mich zu einem vereinbarten Termin umzubringen, ist eine Sache, aber wie um Himmels Willen können Sie denn garantieren, dass mir nicht schon vorher etwas zustößt?"

"Wir machen das schon eine ganze Weile. Davon abgesehen wird das Geld bei Wahl des Todestages auch erst an jenem Tag abgebucht."

"Das ist aber immer noch kein überzeugendes Argument."

"Dann lassen Sie es. Oder entscheiden Sie sich stattdessen für eine Todesart. Wollen Sie im Schlaf sterben? Im Bett mit einer hübschen, jungen Frau? Das sind unsere beiden begehrtesten Todesarten, allerdings auch natürlich die teuersten. Am anderen Ende des Preisspektrums liegen Krankheiten und Verkehrsunfälle mit langem Dahinsiechen im Krankenhaus. Aber auch dazwischen haben wir einige attraktive..."

"Ach, das ist doch alles absurd. Ich gehe."

"Wenn Sie es sich anders überlegen, wissen Sie ja, wo Sie uns finden."

Steffen verließ das Geschäft, ging zurück zur Haltestelle und nahm den nächsten Bus nach Hause. Ein paar Wochen lang verfolgte ihn der merkwürdige Laden mit seinem verrückten Konzept und dieser drolligen alten Dame in seinen Träumen. So ein Unsinn. Als ob man seinen Tod kaufen könnte. Und was sollte dieses Entweder-Oder? Todesart oder Todeszeit, aber nicht beides? Das brachte ja gar nichts. Was nützte einem ein garantierter Tod in 30 Jahren, wenn man 28 davon im Koma verbringt, bevor die Verwandtschaft endlich die Geräte abstellen lässt? Auf der anderen Seite konnte man sich eine noch so unwahrscheinliche Todesart aussuchen, wie von einem weißen Tiger gefressen zu werden; aber wer garantierte denn, dass keiner aus dem Zoo oder aus dem Zirkus ausbricht, womöglich schon nächste Woche? Fragen über Fragen. Wobei... interessant wäre es ja schon.

Mehrere Jahre gingen ins Land, und irgendwann hatte Steffen aufgehört, an den seltsamen Laden zu denken. Dann wurde irgendwann bei einem seiner Routinearzttermine Bauchspeicheldrüsenkrebs diagnostiziert.

"Fünf oder sechs Monate, Herr Rademacher, aber das ist das absolute Maximum. Rechnen Sie lieber mit weniger und freuen Sie sich über jeden Tag, der ihnen dann noch bleibt."

Die Diagnose konnte doch nicht stimmen. Nicht bei ihm. Er hatte sich stets gesund ernährt, hatte Alkohol und Zigaretten vermieden, ging regelmäßig zur Vorsorgeuntersuchung... Unmöglich! Aber ein zweiter Arzt bestätigte die Diagnose, ging sogar nur von drei bis vier Monaten aus, die ihm noch verblieben.

Und da fiel ihm wieder dieses Haus im Wald ein. Er hatte nichts mehr zu verlieren, warum sollte er es also nicht versuchen? Er fuhr erneut zur Haltestelle, irrte ein paar Minuten durch den Wald und kam dann wieder zu dem kleinen Geschäft. Dieses sah unverändert aus. Noch immer stand da diese Sanduhr im Schaufenster, allerdings war diesmal kaum noch Sand in der oberen Hälfte. Irgendwie passend. Er betrat das Geschäft. Die gleichen weißen Wände. Der gleiche weiße Teppichboden. Der gleiche Geruch nach Chlor und Zimt. Bloß die Frau hinter der Theke war eine andere. Jünger.

"Guten Tag, mein Name ist Rademacher. Ich würde gerne einen Todestag kaufen."

"Nett, Sie kennenzulernen. Meine Schwester hat schon von Ihnen erzählt."

Steffen stutzte.

"Schwester? Ich verstehe nicht... Die Dame, mit der ich letztes Mal sprach, war doch bestimmt vierzig Jahre älter als Sie, wenn nicht sogar noch mehr..."

"Oh nein, das täuscht. So weit sind wir gar nicht auseinander. Keine Sorge, den Fehler machen viele. Aber kommen wir doch zum geschäftlichen Teil. An was für einen Tag haben Sie denn gedacht?"

"Na ja, das kommt ganz darauf an. Sehen Sie, meine Ärzte haben mir ein halbes Jahr prognostiziert. Krebs, wissen Sie? Für jeden Tag mehr wäre ich dankbar. Wobei ich natürlich schon immer gedacht hatte, dass ich mal irgendwann die Rente genießen könnte. Allerdings weiß ich nicht, ob ich mir das leisten kann, ich kenne ja Ihre Preise noch gar nicht."

"Lassen Sie mich mal sehen."

Sie tippte auf einem Taschenrechner herum, der offenbar schon die ganze Zeit auf der Theke lag, ohne dass Steffen ihn bemerkt hätte.

"Nun, bis zur Rente wären es bei gleichbleibendem Renteneintrittsalter etwa... Ihre Lebenserwartung ist... Das macht dann bei aktuellem Eurostand..."

Sie schrieb einen Betrag auf einen Notizzettel. Den Notizblock hatte Steffen vorher genauso wenig beachtet wie den Taschenrechner. Er las die notierte Summe. Das war zuviel. Den Betrag würde er nie bezahlen können. Selbst bei Ratenzahlung würde er um einiges länger brauchen als er gerade auszuhandeln versuchte. Peinlich berührt schüttelte er den Kopf.

"Das kann ich mir nicht leisten. Wie teuer wären denn, sagen wir mal, drei Jahre?"

Die Frau hinter der Theke überlegte kurz und notierte dann eine zweite, bedeutend realistischere Summe. Steffen schluckte, dann nickte er. Drei Jahre. Das war nicht viel. Aber klar, verglichen mit dem, was seine Ärzte ihm versprechen konnten, war das eine ganze Menge. Und selbst, wenn das hier alles Betrug ist, in spätestens sechs Monaten würde er sowieso nichts mehr mit dem Geld anfangen können. Die Frau setzte den Papierkram auf, Verträge, Einzugsermächtigung, einige seltsame Dokumente bezüglich des Abtritts und des Erwerbens von Lebenszeit, die Steffen mehrmals durchlas, aber nicht wirklich verstand. Zumindest schien er daraus keinen Schaden zu haben, also unterzeichnete er alles. Er bekam Kopien der Papiere ausgehändigt und ging. Er sah noch einmal zurück. War die Sanduhr nicht vorhin noch etwas leerer? Merkwürdig. Aber sicherlich kein schlechtes Omen.

In den nächsten Monaten überschlugen sich dann die guten Nachrichten. Es begann damit, dass beide Ärzte Fehldiagnosen einräumten. Auf unerklärliche Weise seien in beiden Fällen Laborwerte vertauscht worden. Er habe gar keinen Krebs. Steffen fragte sich, ob es ein Fehler war, sein Leben auf drei Jahre festzusetzen, oder ob erst das dazu führte, dass er keinen Krebs hatte. Erst einmal abwarten, schien ihm der vernünftigste Weg zu sein. Nicht, dass die neuen Diagnosen die falschen waren. Erst einmal sehen, ob er tatsächlich die nächsten sechs Monate überlebte.

Und das tat er. Außerdem handelte seine Gewerkschaft einen neuen Tarif aus, der sein Einkommen etwas erhöhte. Er lernte im Bus eine Frau kennen, und die beiden verstanden sich blendend. Sie zogen zusammen und merkten, dass das funktionierte. Schon recht bald fragte er sich, wie er je ohne sie ausgekommen war. Sie heirateten. Und in dem ganzen Trubel merkte er gar nicht, dass die sechs Monate verstrichen, er aber immer noch da war. Er wurde befördert, was sein Gehalt noch einmal deutlich nach oben korrigierte und außerdem dazu führte, dass er nun in einem Bürogebäude am anderen Ende der Stadt arbeitete und auf dem Weg dorthin nicht mehr durch den Wald fuhr. Seine Frau wurde schwanger, bekam Zwillinge, und Steffen hatte plötzlich ganz andere Sorgen als den Laden oder den Handel, den er eingegangen war. All das erschien ihm mittlerweile wie ein Traum, den er als Kind hatte. Oder wie ein Film, den er mal vor Jahren gesehen hatte. Etwas unwirkliches, nichts das ihm selbst passiert sein konnte.

Bis er dann eines Tages seine Weihnachtseinkäufe mit EC-Karte zahlen wollte und das nicht ging. Er lief zu seiner Bank und sah seine Zahlungsabgänge durch. Das Unternehmen "Sterben nach Wunsch" hatte einen gewaltigen Betrag abgebucht. Den vereinbarten Betrag. Ihm ging durch den Kopf, was die alte Frau gesagt hatte:

"Wir machen das schon eine ganze Weile. Davon abgesehen wird das Geld bei Wahl des Todestages auch erst an jenem Tag abgebucht."

An jenem Tag. Dem Todestag. Wenn das Geld heute abgebucht wurde, dann... Er musste so schnell wie möglich zu dem Haus im Wald. Dieses Mal achtete er auf jede einzelne Haltestelle. Er stieg aus, rannte durch den Wald und erreichte den Laden. In der oberen Hälfte der Sanduhr waren nur noch ein paar wenige Krümel. Er stürzte in das Geschäft. Hinter der Theke stand ein kleines Mädchen, noch einige Wochen vom Beginn der Pubertät entfernt.

"Herr Rademacher, hallo. Meine Schwestern haben mir schon von Ihnen erzählt. Aber warum kommen Sie denn hierher?"

"Ich brauche... mehr Zeit... Familie... ich..."

Er musste erst einmal zu Atem kommen.

"Ich verfüge jetzt über ein höheres Einkommen als damals bei Vertragsunterzeichnung. Ich muss unbedingt noch ein paar Jahre dranhängen."

"Dranhängen? Aber... das geht nicht. Sie haben bereits Zeit von jemandem bekommen, der gerne im Schlaf sterben wollte und das knappe drei Jahre vor seinem eigentlich geplanten Schicksal tat. Und so wie es aussieht, haben Sie diese Zeit so gut genutzt, wie das nur möglich ist. Aber diese Prozedur lässt sich nicht wiederholen. Wir haben das versucht, oft genug. Aber wenn man den Lebensfaden ein zweites Mal manipuliert, dann reißt er. Ohne Ausnahme. Und glauben Sie mir, ein gerissener Lebensfaden ist alles andere als schön.

"Aber dann..."

"Dann können wir nichts machen. So, wie ich das sehe, bleibt Ihnen noch etwa eine halbe Stunde. Gehen Sie am bes..."

"Eine halbe Stunde?! In der Zeit schaffe ich es ja nicht einmal mehr nach Hause zu meiner Familie! Was soll ich denn jetzt machen?!"

"Am besten, Sie gehen irgendwohin, wo der Tod nicht schmerzhaft sein kann. Meiden Sie die Straße. Meiden Sie die Stadt. Essen Sie nichts, an dem Sie ersticken könnten. Meiden Sie Stromleitungen. Wilde Tiere So etwas halt. Setzen Sie sich an eine ruhige Ecke im Wald, und beten Sie. Vielleicht hier draußen vor dem Fenster? Das würde sich anbieten. Tiere meiden diesen Ort, ich glaube, sie spüren den Tod."

In diesem Moment kam die mittlere der drei Schwestern die Wendeltreppe im hinteren Teil des Ladens herunter.

Ihm fiel auf, dass diese Treppe bei all seinen Besuchen schon da war, aber er sie nie registriert hatte.

"Oh, Herr Rademacher. Sie hätten nicht herkommen brauchen. Wir hätten Sie auch an jedem anderen Ort gefunden."

Steffen ging aus dem Laden. Er dachte kurz darüber nach, mit seinem Handy seine Frau anzurufen, ließ es dann aber bleiben. Er wusste nicht, was er hätte sagen sollen, ohne dass es wie der Abschied vor einem Selbstmord geklungen hätte. Und er wollte der Nachwelt nicht als Selbstmörder im Gedächtnis bleiben.

Verzweifelt ging er seine Optionen durch. Er wollte um jeden Preis mit ansehen, wie seine Kinder groß wurden und ihm irgendwann Enkel gaben. Er wollte mit seiner Frau zusammen alt werden. Er wollte noch nicht sterben. Es gab so vieles, was er nie gemacht, nie gesehen, nie geschafft hatte. Er ließ sich auf einen Baumstumpf sinken und sah zum Schaufenster herüber. Er konnte aus der Entfernung keinen Sand mehr in der oberen Hälfte sehen. Jetzt würde es gleich zuende gehen. Aber was konnte er tun? Wie konnte er seinen Tod abwenden? Und dann ging es ihm auf.

Er rannte zurück zum Laden und stürmte hinein. Das kleine Mädchen hinter der Theke erschrak. Er lief zur Wendeltreppe und nahm zwei Stufen auf einmal auf dem Weg nach oben. Dort angekommen, sah er die alte Frau über einem gigantischen Webstuhl gebeugt, eine Schere in der Hand. Sie griff nach einem Faden. Er griff nach der Schere.

Steffen Rademacher war kein impulsiver Mensch. Das war er noch nie. Solange er zurückdenken kann, war er zuverlässig wie ein Uhrwerk und hielt seinen Zeitplan penibel ein. Die besten Voraussetzungen, um zum Tod zu werden. Denn wenn man den Tod besiegt, muss man seine Rolle einnehmen. Ohne Tod geht es nicht. Wenn alle Menschen unsterblich wären, würden sie bis zum Organversagen weiteraltern und in alle Ewigkeit Schmerzen erleiden, ohne jemals erlöst werden zu können. Es muss immer einen Tod geben. Er erstach die alte Frau. Es war Notwehr. Und in ihrem Tod lächelte sie, neugierig auf das, was sie nun erwartete. Das, was sie über Jahrtausende den Menschen gebracht hatte. Das, von dem sie nie gedacht hätte, es mal selbst zu erfahren. Das von dem sie dachte, dass es ihr auf ewig vorenthalten würde. So, wie es nun Steffen vorenthalten wird.

Und Steffen sah hinüber zum Webstuhl, wissend, dass er nun die Fäden der Menschen durchtrennen müsste. Für immer. Zuverlässig wie ein Uhrwerk. Penibel nach dem vorgeschriebenen Zeitplan. Einfach gründlich. Auf gewisse Weise hatte er sich sein ganzes Leben lang auf diese Aufgabe vorbereitet. Doch da sah er den Fehler im Plan. Er durfte keine Ausnahme machen. Nicht für seine Frau. Nicht für seine Kinder. Er würde sie nie wiedersehen. Er würde irgendwann auch ihr Leben beenden müssen.

Und in diesem Moment wünschte er, er hätte sich für das Sterben entschieden...

9. Oktober 2010

Das Hörbuch zur Poetry Night



Das Hörbuch zur Poetry Night

Gratis-Hörbuch zum Download, mit je zwei Geschichten von Jacinta Nandi und mir, sowie noch einigen anderen netten Menschen.
Produziert im August 2010 von Audible.de

4. Oktober 2010

Experimental-Slam: Ab dem 10.12.


Ab dem 10.12.2010 moderiere ich den alle drei Monate stattfindenden Experimental-Slam im Labor, Berlin. Dabei wissen Slammer und Zuschauer vorher nicht, was sie erwartet. Mal werden Gedichte und Texte in völliger Finsternis vorgetragen, mal werden Texte getauscht, mal müssen die Poeten vor Ort noch etwas zu einem bestimmten Kunstwerk schreiben und vortragen, mal ist es etwas völlig anderes. Unterhaltsam wird es wohl auf jeden Fall.

Bisher zugesagt haben:
  • Robin Isenberg
  • Tom Mars
  • Eve McFar
  • Lyly Schoettle
  • Josefine Berkholz