23. April 2012

Nachruf


People try to put us down

just because we get around.

Things they do look awful cold

hope I die before I get old.

Zeilen aus einem der Lieblingslieder meines Vaters: My Generation. Als der britische Musiker Pete Townshend das Lied 1965 schrieb, war er 20 Jahre alt. Mein Vater war zu dem Zeitpunkt 14. Townshend ging es bei dem Lied um die Suche der Jugend nach ihrem Platz in der Gesellschaft, und um die Hindernisse, die ihr die Gesellschaft in den Weg stellt. Werner konnte sich gut damit identifizieren. Seine Mutter musste sich um seinen Vater kümmern, dieser war alt, krank und brauchte Ruhe. Doch Werner war nie ruhig. Er war wild, wusste nicht, wohin mit seiner Energie. Und so eckte er ständig an und fing sich Strafen und auch Prügel ein. Und er redete sich ein, dass die ganze Welt gegen ihn sei.

People try to put us down, just because we get around.“

Doch er war kein böses Kind. Er kümmerte sich rührend um seine kleine Schwester Ele. Er beschützte sie. Er fuhr mit ihr Roller. Als ihre Mutter entschieden hatte, dass Ele zu groß für Ostern war, besorgte Werner selbst ein Osternest und versteckte es für sie.

Der Vater der beiden starb 1963, lange bevor Townshend auch nur die Idee zu My Generation hatte. Und schon wieder muss sich Werner ungerecht behandelt gefühlt haben. Ich weiß, dass ich mich im Moment ungerecht behandelt fühle, und mein Vater war damals zwanzig Jahre jünger als ich es jetzt bin.
Und wie die Jugend in Townshends Lied suchte auch mein Vater seinen Platz in einer Welt, die gegen ihn war, zumindest aus seiner subjektiven Wahrnehmung. Eher unfreiwillig machte er eine Ausbildung zum Friseur, aber er spürte keine Verbindung zu diesem Beruf, keine Leidenschaft. Zu einem Abschluss brachte er die Ausbildung nie.
Auch die Bundeswehr gefiel ihm nicht. Aber diese Zeit hatte Folgen. Denn Werner begann dort mit dem Trinken. Eine Sucht, die ihn jahrzehntelang im Griff hatte und die seinem Leben einige weitere Hindernisse in den Weg stellte. Er verlor mehrfach den Führerschein, mehrfach seinen Job, als Mechaniker, Hausmeister, Fernfahrer und mehr. Ereignisse, die er natürlich meistens dem Rest der Welt in die Schuhe schob.

Things they do look awful cold.“

Als ich geboren wurde, besaß Werner die Weisheit, einzusehen, dass er unter dem Einfluss von Alkohol kein guter Vater sein würde, und er gab mich in die Obhut seiner Mutter, die mittlerweile erfahrener war – und nicht mehr mit der Pflege eines kranken Mannes ausgelastet. Ich werde ihm für diese Entscheidung immer dankbar sein.

Es dauerte bis 1998, bis Werner die Kraft gefunden hatte, mit dem Trinken aufzuhören. Und von da an - bis zu seinem Tod - hat er keinen Tropfen Alkohol mehr angerührt. Und es ging aufwärts. Die Arbeit im Modelleisenbahnladen und im Parkhaus, die neue Wohnung, die Mitgliedschaft im Modelleisenbahnclub, das Herumschrauben am Simca. 2004 hat er es sogar geschafft, den Krebs zu besiegen, der sich in seiner Schilddrüse eingenistet hatte. Als ich dann nach meiner Rückkehr aus Berlin eine Wohnung brauchte, hat er mich eine Weile bei sich einziehen lassen. Zum ersten Mal seit einem Vierteljahrhundert wohnte ich bei meinen Eltern.

Er machte ein letztes Mal den Führerschein und freute sich auf die Rente. Von der er nun leider nicht mehr viel hatte.

Natürlich kann man spekulieren, ob das Leben meines Vaters ohne den Alkohol anders ausgesehen hätte. Vielleicht wäre er heute noch Mechaniker, oder Hausmeister, oder etwas ganz anderes. Aber ob er dann auch die gleichen Freunde gehabt hätte? Ob er meine Mutter kennengelernt hätte? Ob es mich überhaupt geben würde? Ob er auch ohne den Umweg über die Sucht und das Besiegen dieser Sucht jemals glücklich geworden wäre? Wir werden es nie erfahren, und es ist auch irrelevant. Denn es war nun einmal ein Teil seines Lebens, und das wichtige ist: Am Ende war er stärker als der Alkohol.
Und es hat lange gedauert, aber er hatte endlich seinen Platz in der Welt gefunden. Er war glücklich.

Hope I die before I get old“ bedeutete laut Townshend nicht die Hoffnung auf einen frühen Tod, sondern auf einen Tod, bevor Reichtum die Möglichkeit hat, den Charakter zu verderben. Aber egal, ob man die Zeile wörtlich oder metaphorisch auffasst, Werner hat beides geschafft. Pünktlich zum Beginn der Rente verstarb er mit gerade einmal 60 Jahren. Nach fataler und bis heute nicht nachvollziehbarer Fehlkommunikation im Krankenhaus entließ er sich selbst nach Hause, ohne von der schweren Lungenentzündung zu wissen, die die Ärzte dort zu diesem Zeitpunkt bereits diagnostiziert hatten. Und an deren Folgen er eine Woche später verstarb.

Aber in uns allen wird er weiterleben.
Vor allem in mir – der „Next Generation.“