27. Oktober 2008

Unsichtbar

Gestern abend war ich beim Rosenkrieg in Bonn. In der Vorrunde wurde ich dritter, in Halbfinale ganz knapp zweiter (mit einem Punkt Vorsprung!), und obwohl es ein Dreierfinale wurde, konnte ich den zweiten Platz halten. Mein größter Erfolg bisher. In einer der Pausen erzählte dann Claas Neumann von einem Anti-Rassismus Slam in Essen Anfang November. Florian Cieslik erwähnte seine Lesebühne am Freitag abend, diesmal mit dem Thema Monster. Und beide Themen spukten mir dann auf der Rückfahrt durch den Kopf. Zu beidem hatte ich Ideen, und eine davon habe ich dann heute ausformuliert.

Unsichtbar

Hallo. Ich bin's. Erinnerst Du Dich an mich? Damals, als Du noch klein warst, war ich Dein bester Freund. Außer Dir konnte mich niemand sehen, aber das machte nichts. Wir hatten trotzdem viel Spaß zusammen. Ich war immer da für Dich. Ich habe mich mit Dir gefreut, wenn es Dir gut ging, ich habe Dich in den Arm genommen, wenn Du Angst hattest, ich habe Dich gekitzelt und alberne Witze erzählt, wenn Du Aufheiterung brauchtest. Wir haben zusammen Spiele erfunden und ganze Nachmittage damit verbracht, lustige Geräusche zu machen.

Deine Eltern haben es nicht verstanden. Sie konnten mich nicht sehen. Sie konnten mich nicht hören. Sie sagten, Du hättest Dir mich nur ausgedacht. Was soll das denn heißen, nur? Die wussten doch gar nicht, was „ausdenken“ bedeutet. Ausdenken ist ein aktiver Prozess, ein aus-dem-Kopf-heraus-denken. Ideen in Eure Welt hineinzudenken. Und gerade die Phantasie von Kindern ist der fruchtbarste Nährboden für Ideen. In den kleinen Kinderköpfen ist nicht genügend Platz für alle Ideen, und darum denken sie uns aus, in Eure Welt hinein. Und es ist eine perfekte Symbiose. Ihr denkt uns ins Leben aus und füttert uns mit Zuneigung, dafür sind wir Eure Freunde. Und es gibt eine ganze Menge von uns, nicht umsonst steckt das Wort „Nation“ in „Imagination“.

Es war eine schöne Zeit. Wir bauten im Sommer Sandburgen und füllten sie mit Ideen. Im Winter schufen wir Schneemänner und lieferten uns Schneeballschlachten. Du hast meistens gewonnen.

Irgendwann haben uns Deine Eltern dann einen Hamster gekauft. Das heißt, gekauft haben sie ihn eigentlich nur Dir, damit Du auf andere Ideen kommst. Später waren es dann Deine Freunde aus dem Kindergarten, Dein erstes Fahrrad, Deine He-Man Figuren, Dein Gameboy... Und irgendwann dazwischen konntest Du mich nicht mehr hören, irgendwann konntest Du mich nicht mehr sehen, irgendwann hast Du nicht mehr an mich gedacht... Und irgendwann hast Du vergessen, dass es mich jemals gab.

Aber ich war noch da.

Weißt Du, wie das ist, wenn Du körperlos bist, unsichtbar und ohne hörbare Stimme? Wie das ist, wenn Dich niemand mehr beachtet? Wenn Dir keiner mehr Zuneigung schenkt? Das ist die Hölle. Ich wäre fast verhungert, wenn ich mich nicht von der Zuneigung ernährt hätte, die Du in andere Objekte investiert hattest. Deine Kuscheltiere, solange Du noch welche hattest. Deine Lieblingspullis und Comic-Hefte. Später dann Deine Pornos, Deine Wasserpfeife, das war eine harte Zeit. Es war keine reine Zuneigung mehr, die Du in Deinen Besitz stecktest, es waren andere, weniger starke Gefühle. Aber es waren immer noch positiv geladene Gefühle. Irgendwann hörte auch das auf. Ich magerte stark ab. Wurde nur noch zu einem Schatten meines unsichtbaren Selbsts.

Ich begann, mich direkt von Deiner Phantasie zu ernähren. Du hast mir ja keine andere Wahl gelassen. Wenn Du Dir vorgestellt hast, Deinen Chef zu erwürgen, dann hat mir das geholfen. Wenn Du Dir vorgestellt hast, Deine Freundin mit einer anderen zu betrügen, dann hielt mich das am Leben. Aber all das veränderte mich. Meine Zähne wurden spitz, weil ich Dir diese Vorstellungen entreißen musste, weil Du mich nicht mehr freiwillig gefüttert hast. Meine Finger wurden lang und dünn, damit ich die Ideen besser packen konnte. Meine Augen begannen, gelb zu leuchten, weil ich mich unter Deinem Bett versteckte, um näher an Deinen Träumen zu sein. Oh, und Deine Träume... Der Stress in Deinem Beruf und in Deiner Beziehung machte Deine Träume finster, bedrohlich. Aber ich war jetzt selbst bedrohlich, und ich begann, Deine Alpträume genießen zu lernen. Negative Gefühle können genauso reichhaltig sein wie positive. Und es gibt sie so zahlreich.

Heute hast Du selbst Kinder. Und ich muss Dich beglückwünschen, ihre Phantasie ist wirklich köstlich. Ich verstecke mich jetzt unter ihrem Bett. Manchmal komme ich hervor und erschrecke sie, damit sie schlechter schlafen. Denn süße Träume schmecken mir schon lange nicht mehr. Manchmal machen sie sich sogar nass vor Angst. Diese Angst ist köstlich. Manchmal rufen sie Dich oder Deine hässliche Frau um Hilfe. Aber Du kannst mich schon seit Jahren nicht mehr sehen. Nur Deine Kinder können das noch. Und Du glaubst ihnen nicht. Wahrscheinlich kaufst Du ihnen dann bald einen Hamster. Oh, und wenn der dann eines Tages stirbt, dieser Schmerz, den Deine Kinder dann spüren werden...

Da werde ich Monate von zehren können.

Und irgendwann wirst Du dann Enkel haben. Und ich werde unter ihren Bettchen lauern. Und wenn dann eines Tages Du stirbst... Das wird ein Festmahl. Ich freue mich und danke Dir jetzt schon...



22. Oktober 2008

Ich will kein Mensch mehr sein

Ich komme gerade von der Lesebühne Poetry Bites nach Hause, einer Lesebühne mit gewöhnlich zwei "Hauptacts" und einem offenen Mikrophon im Anschluss (was mir die Möglichkeit gab, noch einmal Wie sehr ich Dich mag vorzutragen). Statt zwei Hauptacts gab es heute nur einen, nämlich die dreiköpfige Gruppe Großraumdichten. Sehr sympathisch und sehr talentiert, klickt ruhig mal auf den Link.






Zurück? Großartig, oder?

In der Pause gab es dann einen kleinen Wettbewerb. Moderatorin Anke Fuchs verteilte Zettel und Stifte, dann durfte jeder ein Gedicht schreiben. Einzige Vorgabe: Es mussten zwei von Großraumdichten bestimmte Wörter darin auftauchen. Die drei Scherzkekse entschieden sich für "Wadenkrampf" und "Wäschestrumpf". Ich habe die 15 oder 20 Minuten voll ausgenutzt und statt dem vorgeschlagenen Vier- oder Sechszeiler das hier formuliert:

Ich will kein Mensch mehr sein (Erste Rohversion)

Vor circa zwanzig Jahren, da war ich noch ein Kind.
Da hab ich mir gewünscht, dass meine Eltern gar nicht meine Eltern sind.
Ich wollt' ein Alien sein, oder ein echter Schlumpf
mit Pilzhütte im Wald und nicht größer als ein Wäschestrumpf.
Ich war mir sicher, ich war mit dem Wunsch allein,
aber ich wollte ganz einfach kein Mensch mehr sein.

Menschen führten Kriege mit Artillerie und Grabenkampf.
Das fand ich so gut wie nachts um zwei 'nen Wadenkrampf.
Menschen töten Menschen schon seit Abel und Kain.
und ich? Ich wollt' kein Mensch mehr sein.

Mit zwölf oder dreizehn war ich immer noch hier,
ich war immer noch Mensch, kein Werwolf oder Vampir,
kein Mutant wie in den Comics, doch der Wunsch war noch mein:
Ich wollte nach wie vor kein Mensch mehr sein.

Heute bin ich achtundzwanzig und find's immer noch nicht klasse,
ein kleiner Teil zu sein der menschlichen Rasse.
Doch vielleicht find' ich Gleichgesinnte, dann bin ich nicht mehr allein,
und es wollen auch noch andere kein Mensch mehr sein.

An der Stelle wurde mir dann der Zettel mit den entsetzten Worten "NICHT SO VIEL!!!" weggenommen. Insgesamt wurden zwei Gedichte von Großraumdichten in die engere Wahl genommen, das Publikum durfte dann per Applaus bestimmen, welches von beiden mit einem kleinen Preis ausgezeichnet wurde. Meins war nicht dabei. Und es ist ja auch noch etwas krude, hier und da rumpelt es noch, und das Ende kommt auch ein bisschen plötzlich. Aber jetzt kann ich mir ja mehr als eine viertel Stunde Zeit nehmen. Mal sehen, vielleicht wird ja noch etwas brauchbares daraus.

13. Oktober 2008

Wie sehr ich Dich mag

Letzten Samstag war ich wie bereits gesagt (ja, es irritiert etwas, dass die neuen Beiträge weiter unten sind und umgekehrt chronologisch sortiert werden) bei der Offenen Wunde im Low Budget zu Gastund durfte zehn Minuten reden. Eigentlich war mein Plan, etwas von der Lesebühne Basspoem (die ebenfalls weiter unten erwähnt wird, wie gesagt, wer das hier chronologisch lesen möchte, möge bitte beim untersten Beitrag anfangen) zu recyclen, aber andererseits wollte ich den Leuten, die da eventuell auch schon im Publikum saßen, etwas neues bieten. Und so schrieb ich ein romantisches Liebesgedicht, das man sich bitte mit sanfter, warmer, einlullender Stimme vorstellen kann.

Wie sehr ich Dich mag

Hey Du, hallo, guten Tag.
Ich wollte Dir nur sagen, wie sehr ich Dich mag.
Du bist so süß wie Marzipan mit einem Zuckerwattekern,
und ich habe Dich wirklich zum Fressen gern.

Ich habe lange überlegt, wie soll ich Dir das sagen?
Irgendwann fiel mir dann ein, Liebe geht doch durch den Magen.
Und so lade ich Dich hiermit zu mir zum Essen ein.
Nur Du und ich allein, bei etwas Wein und Kerzenschein.

Der erste Gang ist Suppe, und das hat auch seinen Sinn,
denn in Deiner Portion sind dann KO-Tropfen drin.
Dieses festliche Menü hat einen absoluten Clou:
Der erste Gang ist Suppe. Der zweite Gang bist Du.

Deine Arme leg ich ein in Teriyaki-Marinade.
Die servier ich aus dem Wok, mit einer Sesam-Panade.
Dazu gibt es dann Reis, Bambusschoten und Lauch.
Ich bin mir ziemlich sicher: So schmeckst Du Dir dann auch.

Danach widme ich mich dann Deinem linken Bein.
Das lege ich in Chili-Ingwer-Honigsauce ein.
Und wenn ich nach dem Sesam-Arm noch etwas essen will,
werfe ich Dein Bein auf den schon vorgeheizten Grill.

Dein anderes Bein wird von mir zärtlich amputiert,
mit Brandteig umhüllt und in Kokosfett fritiert.
Und außerdem hab ich jetzt auch genug von Deinem Blut,
um Wurst daraus zu machen. Die schmeckt uns sicher gut.

Langsam wird es draußen hell. Ist es wirklich schon so spät?
Vor dem Schlafengehen wirst Du jetzt noch durch den Wolf gedreht.
Und aus Deinem Fleisch, Du hast es vielleicht schon erraten,
mache ich dann morgen einen leckeren Hackbraten.

Hätte ich's nicht schon gegessen, würd' ich flüstern in Dein Ohr:
"Jetzt bist Du mir so nahe wie noch nie jemand zuvor."
Und in meinen Träumen antwortest Du dann, ganz aus dem Bauch.
Du sagst nur vier Worte: "Ich liebe Dich auch."

Trip

Vor fünf Jahren bekam ich meinen ersten Vorgeschmack auf meine aktuelle Fernbeziehung, als meine Freundin für zwei Monate nach Vietnam flog und ich alleine zuhause blieb. Nach dem ersten Langweilen beschloss ich, die Zeit sinnvoll zu nutzen und einen Roman zu schreiben. Doch bald schlug Murphys Gesetz zu und alles, was schief gehen konnte, ging schief. Unter anderem ging der Prozessor in meinem Computer kaputt, auch ein zweiter hielt nicht länger als zwei Stunden durch. Aber jetzt bin ich ja nicht ganz blöd und hatte den Prolog natürlich auf einer Diskette (erinnert sich noch wer?) gespeichert. Und so schrieb ich dann erst einmal auf dem uralten Laptop weiter, den wir gebraucht gekauft hatten. Kurz darauf verschwand die Diskette, unmittelbar danach gab dann auch der Laptop endgültig den Geist auf. Ich hatte keine Lust, alles neu zu schreiben, geschweige denn von Hand.
Als ich dann Jahre später einen neuen Computer hatte, schaffte ich es sogar, die Dateien zu rekonstruieren. Allerdings war ich mittlerweile in einer völlig anderen Stimmung und fand mich einfach nicht mehr in die Gedankengänge hinein, die ich damals hatte, als ich mit dem Buch anfing. Schade.
Aber zurück zu Florian Ciesliks Lesebühne. Ich brauchte ja noch Material für weitere zehn Minuten. Und ich hatte keine Zeit mehr, um noch einmal komplett bei Null anzufangen. Also entschied ich mich, den Prolog zu meinem nie fertiggestellten Buch zu nehmen und massivst umzuschreiben. Der Originaltext war nämlich noch ungeschliffener, noch wirrer und hatte nichts mit Herbst zu tun.
Mit dem fertigen Ergebnis bin ich ziemlich zufrieden, und ich las es danach auch noch einmal bei der Offenen Wunde im Low Budget. Übrigens die Veranstaltung, bei der mich das positive Feedback von freundlichen Menschen veranlasste, diesen Blog hier zu beginnen.

TRIP


Deine Augen schmerzen. Du kannst nichts um Dich herum richtig scharf wahrnehmen, weil Deine Augen versuchen, alles um Dich herum richtig scharf wahrzunehmen - ALLES - jedes Detail - ALLES - jede Kleinigkeit - ALLES - jede Einzelheit - ALLES - alles um Dich herum ist scharf. Du siehst die Flusen auf dem bunten, wollenen Hut des Rastafari am anderen Ende des Waggons, Du siehst den dunklen Haaransatz einer Frau, die sich vor drei Stunden die Haare blondiert hat. Du siehst die exakt sechshundertneunundfünfzig einzelnen Regentropfen, die vom Stoff eines zugespannten Regenschirms abperlen und eine kleine, hässliche Pfütze vor den Füßen des Schirmbesitzers bilden. Deine Augen schmerzen immer noch. Du öffnest die versiegelte Limonadenflasche, die Du vor wenigen Minuten in einem unglaublich überfüllten Supermarkt gekauft hast, mit einem schmatzenden Knacken und setzt sie gierig an den Mund. Durst.

Kurzer Einschub: Die Rechtschreibprüfung meines Schreibprogramms bietet mir für „Limonadenflasche“ übrigens die folgenden Vorschläge:

  • Zitronenlimonade

  • Sprudelflaschen

  • Mischerflaschen

  • Weinflasche und

  • Wärmflaschenkrieg.

Natürlich, das macht ja auch alles deutlich mehr Sinn als «Limonadenflasche». Aber zurück zum Durst. Du trinkst. Du trinkst. Du trinkst. Die süß-klebrige Limonade strömt in Deinen Mund, um durch hektisches Schlucken durch Deine Speiseröhre in Deinen Magen hinab transportiert zu werden. Du trinkst. Du trinkst. Deine Augen öffnen sich und Du siehst eine Kakerlake, die in der Flasche gefangen war - wie ist die denn da reingekommen - wie sie immer näher auf Deinen Mund zuschwimmt, wie sie durch den Sog in ihn hineingezogen wird. Du spuckst das Mistvieh wieder aus und wunderst Dich darüber, dass sie nicht an der Limonadenoberfläche am anderen Ende der Flasche trieb.

Alle sehen Dich an. ALLE SEHEN DICH AN.


Der Zug hält und Du verlässt den Waggon. Du gehst die Rolltreppe hoch und bist Dir sicher, alle Fahrgäste hinter Dir über Dich lachen zu hören. Scheiß drauf. Du hast andere Probleme. Deine Augen schmerzen. Du beeilst Dich, weil Du Deinen Anschlusszug ankommen hörst. Du erreichst das andere Gleis und stellst fest, dass kein Zug gekommen sein kann und dass laut der Digitalanzeige in den nächsten drei Minuten auch gar kein Zug kommen wird. Ein nasser Hund bellt Dich stinkend an. Sein genauso nasses, aber nicht ganz so sehr stinkendes Herrchen ist verwundert, weil der Hund sonst immer vollkommen brav i

st und nie jemanden anbellt, das ist ein ganz lieber. Aber Dich bellt er an als seist Du der Teufel. Bist Du der Teufel? Vielleicht bist Du der Teufel. Deine Bahn kommt. Feuchte, braune Blätter kleben an der Scheibe wie schlaffe Verkehrstote aus dem Reich der Botanik. Teufel. Die Bahn hält. Die Türen öffnen sich. Teufel. Du wirst von dem Gedränge auf dem Gleis in die Bahn hineingedrängt. Teufel. Hoffentlich lassen sie Dich gleich wieder raus. Du musst nur eine Station weit fahren. Teufel. Die Bahn fährt mit einem unregelmäßigen Ruckeln los, das schnell zu einem regelmäßigen Rattern wird.


Ratter.


Ratter.


Ratter.


Ratter.


Ratter.



Wie ein Blitz von der Oberleitung der Straßenbahn trifft Dich eine zugegebenermaßen etwas ungenaue Erkenntnis: Etwas wird passieren. Du spürst es. Etwas wird passieren. Vielleicht wirst Du sterben. Etwas wird passieren. Das Gefühl ist unb

eschreiblich. All Deine Sinne schalten noch einmal einen Gang höher, überladen fast Dein System. Deine Augen schmerzen. Deine Haut fühlt sich plump an, wie die Haut eines Fremden. Wie die Haut eines Toten. Du kannst nichts mehr schmecken, nicht mehr den Nachgeschmack der Limonade, nicht einmal mehr die verfickte Kakerlake. Wo ist eigentlich die Wärmflaschenkrieg hin? Memo: Neues Schreibprogramm besorgen. Du spürst, wie Du schwitzt, doch kein Schweiß dringt nach außen. Etwas wird passieren. Du steigst aus. Du gehst die Treppe hoch und Du weißt: Etwas wird passieren. Dir dringt die kühle und noch immer etwas feuchte Herbstluft entgegen. Argwöhnisch beäugst Du die vorbeifahrenden Autos. Vielleicht wird eines nicht bei rot halten und Dich überfahren, während Du in Deiner Grünphase die Straße überquerst? Etwas wird passieren. Vielleicht mac

hen Deine Lungen schlapp? Wie viele von Deinen billigen Menthol-Zigaretten hast Du heute geraucht? Zu viele. Etwas wird passieren. Vielleicht hält das auch Dein Herz nicht mehr aus und Du stirbst einen qualvollen Tod, zitternd und zappelnd auf dem regennassen Asphalt. In Deinem noch immer andauernden Anflug von visuellem Autismus nimmst Du jedes Detail Deiner Umgebung gleichzeitig wahr und kannst die einzelnen Informationen nicht mehr nach Wichtigkeit sortieren. Baum ohne Blätter. Mann mit aufgespanntem Regenschirm. Baum mit ein paar einzelnen braunen Blättern. Grell angeleuchtete Reklameschilder eines Supermarktes. Dicke Frau mit rosa Pudel. Wo kommt die denn her, die hattest Du doch das letzte Mal vor drei Stunden gesehen, am anderen Ende der Stadt und danach nicht mehr. Nein, doch nicht, ist erst wenige Minuten her, die saß mit Dir in der U-Bahn und war Zeugin Deines

Kakerlakenunfalls. Dein Zeitgefühl hat sich schon vor einer ganzen Weile verabschiedet, aber wann? Der surreale rosa Hund ist ruhig, er bellt nicht, er knurrt nicht. Vielleicht bist Du doch nicht der Teufel. Du hörst drei Häuserblocks entfernt ein Handy klingeln. Deine Nackenhaare richten sich auf. Etwas wird passieren. Wäre das ein Film, würde alles anfangen, sich zu drehen, doch das tut es nicht, denn es ist kein Film. Die Wolken reißen kurz auf, gerade weit genug, damit Dir die Sonne direkt ins Gesicht scheinen kann, was sie natürlich auch sofort tut. Deine Laune hebt sich nicht. Deine Augen schmerzen. Wieder dieses Handyklingeln. Verdammt, geh doch endlich ran. Handyklingeln. Das Geräusch bohrt sich in Dein Gehirn, penetriert Deine Synapsen und beißt sich in Deinen Schmerzzentren fest. Irgendein billiges Pop-Geträller aus Deinem Radiowecker heute morgen bohrt sich zurück

in Deinen Gehörgang wie ein Ohrwurm aus dem vierten Kreis der Hölle. Deine Augen schmerzen. Ohrwurm. Du entscheidest Dich, noch eine Menthol-Zigarette zu rauchen. Ohrwurm. Die Ampel schaltet auf grün, während Du noch Dein Feuerzeug herauskramst. Ohrwurm. Du bist unbeschreiblich müde. Ohrwurm. Halbkahler Baum. Nasses Straßenschild. Kirchturm. Baum. Ampel. Grün. Grün? Grün. Du betrittst die Straße und die Ampel springt sofort auf rot um. Jetzt wird es passieren. Jetzt gleich fährt eines der wartenden Autos zu früh los und nimmt Dich einige Meter auf der Kühlerhaube mit, bevor Du unter die dreckigen, nassen Räder gerätst und Deine Menthol-Zigarette den Tank in Flammen aufgehen lässt.

Die daraus resultierende Explosion wird noch drei Häuserblocks entfernt zu hören sein und der Scheißkerl mit dem Handy wird vor Schreck verstummen, weil ihm

die Boulevard-Presse eingetrichtert hat, dass an jeder Ecke islamistische Terroristen warten, die sich mit Freuden selbst in die Luft sprengen würden, bloß um seinen haarigen Protestantenarsch mitzunehmen und seine Eingeweide bis nach Mekka zu blasen. DEINE Eingeweide werden nicht weit fliegen, denn sie werden vorher vom Feuer geröstet. Deine Haare werden sich kräuselnd zusammenziehen und stinken. Deine schicke und viel zu teure Schweizer Plastikarmbanduhr wird mit Deinem Handgelenk verschmelzen. Deine Augen werden ein letztes Mal brennen und danach nie wieder – für immer. Du erreichst die andere Straßenseite, die Ampel für die Autos springt auf rot/gelb um. Du fühlst Dich schweißgebadet, aber Du bist knochentrocken – und nebenbei unversehrt auf der anderen Straßenseite angekommen. Wie hast Du das trotz Deiner hundertprozentig zuve

rlässigen, vollkommen planlos selbst aufgestellten Prophezeiung überlebt? Glück? Zufall? Schicksal? Die Hand Gottes? Dann kannst Du nicht der Teufel sein. Aber was, wenn Du der Teufel bist und Dich Gott nur in falscher Sicherheit wiegen will? Jahaaa, einen Humor hat der, göttlich... Aber nicht mit Dir. Du drehst Dich auf dem Absatz herum und gehst wieder zurück auf die Straße, dem Verkehr und allen roten Ampeln dieser Welt zum Trotz. Entweder Du bist der Teufel, dann können Dir die Autos nichts. Oder Du bist nicht der Teufel, in dem Fall wird Gott seine Hand über Dich halten und Dich beschützen. Wenn Du es eben bei gerade-noch-grün geschafft hast, dann jetzt bei schon-lange-rot doch erst recht, ist doch logisch. Der zuckerwattefarbene Pudel bellt. Das Handy klingelt wieder - verdammt, geh doch endlich ran, Du Wichser! Deine Augen schmerzen. Die Stoßsta

nge eines Golfs bricht Dir mit einem schmatzenden Knacken Deine Unterschenkel. Sekundenbruchteile später knallt Dein Schädel gegen die regennasse Windschutzscheibe, ein Scheibenwischer bohrt sich in Dein rechtes Auge und sucht sich abenteuerlustig, aber doch zielsicher seinen Weg durch Deinen Kopf. Du kannst durch Deinen eigenen Kopf hindurchgucken. Deine Augen schmerzen. Deine immer noch glühende Zigarette rollt dem immer noch kläffenden Pudel vor die immer noch rosanen Vorderpfoten. All Deine Sinne sind noch immer bis auf's äußerste geschärft. Es ist wie ein schlechter Trip, dabei hast Du niemals Drogen genommen. Außer Deinen Menthol-Zigaretten, natürlich. Wieso rauchst Du eigentlich noch immer? Guns don't kill people, cigarettes kill people. Zeit, mit dem Rauchen aufzuhören. Für immer. Du rutschst von dem Scheibenwisc

her in Deinem Kopf herab und fällst auf die von kleinen, braunen Blättern übersäte Straße.


Deine Augen schmerzen.



Nachtrag, 11.12.2008
Weil der Pretty Poetry Slam vorgestern in Düsseldorf spontan zu einer Lesebühne umfunktioniert wurde, ließ sich Kassenwart Janosch Jauch von Moderator Denis Seyfarth dazu überreden, zu einigen der vorgetragenen Texte Illustrationen anzufertigen. Das Ergebnis siedelt sich irgendwo zwischen Ralph Steadman und Fil an und sieht so aus:

Vielen Dank noch einmal. War ein großartiger Abend.

Der Geist

Es folgt ein langes Intro zu einer noch längeren Geschichte. Dafür spare ich mir diesmal das Nachwort.

2005 arbeitete ich in einer Berliner Videothek, unter anderem mit einem Kollegen namens Marc. Marc hatte gerade sein Graphikdesign-Studium beendet und brachte immer mal wieder eine Mappe mit seinen Zeichnungen mit. Und verdammt, waren die gut. Stilistisch irgendwo zwischen Jim Mahfood und Scott Morse, mit starkem Grafitti-Einfluss... Ich nahm mir fest vor, irgendwann mit ihm ein Comic auf die Beine zu stellen. Und die Gelegenheit kam dann auch recht bald: Der Independent-Verlag Ronin Studios plante eine Anthologie zum Thema Zweiter Weltkrieg. Denn wie gesagt, es war 2005, und die Kapitulation Deutschlands jährte sich zum sechzigsten Mal. Ich pitchte ein paar Sachen, dabei kam dann heraus, dass es schon zu den meisten Genres Vertreter im Heft gab. Bloß noch nichts zum Thema Horror. Ich beschloss, eine Geistergeschichte zu schreiben. Und ja, an der ist wirklich jedes Detail erfunden, Ähnlichkeiten zu mir und meiner Familie sind nicht vorhanden.
Ich schrieb also eine kurze Geschichte, dampfte sie auf vier Seiten ein (denn den Druck mussten wir selbst bezahlen, aber der Erlös ging zumindest an einen wohltätigen Zweck, Kriegswaisen in Afghanistan, wenn ich mich richtig erinnere) und schickte das Script an Ronin. Nachdem es keine inhaltlichen Einwände gab, drückte ich Marc das Script in die Hand und ließ ihn zeichnen, ich glaube, er hatte einen Monat dafür Zeit. Schon ein paar Tage später hatte ich die erste Seite in der Hand. Und sie war hervorragend, besser als ich es mir vorgestellt hatte. Bald kam die zweite Seite, die ebenfalls recht gut war, irgendwann folgte die dritte Seite, bei der ich ein paar Kleinigkeiten auszusetzen hatte. Ich sagte Marc, was genau mich störte, und er zog ab. Und dann verging einige Zeit. Irgendwann hatte ich Marcs ersten Entwurf für die vierte Seite in der Videothek liegen, aber Marc selbst war völlig von der Bildfläche verschwunden.
Ich schickte die Seiten so, wie sie waren, an Ronin, und die sagten mir ganz klar, dass die Seiten so nicht gedruckt werden könnten. Ich schaffte es, noch etwas Zeit herauszuschinden, konnte aber Marc nicht erreichen. Ich erfuhr, dass er gerade umzog, hatte aber weder seine neue Adresse noch die neue Telefonnummer. Und sein Handy war kaputt oder anderweitig nicht erreichbar. Mir blieb bloß übrig, ihm Nachrichten in der Videothek zu hinterlassen, aber auch da gab es keine Rückantwort, und im Dienstplan tauchte er einige Wochen nicht auf.
Ich weiß immer noch nicht, was Marc damals durchgemacht hat, jedenfalls war dann irgendwann Redaktionsschluss, und die Seiten waren immer noch nicht fertig. Das Heft ging ohne unsere Geschichte in Druck und schaffte es Gerüchten zufolge irgendwann sogar in die Hände von Alan Moore.
Drei Jahre später fragte mich Florian Cieslik, ob ich nicht Lust hätte, als Gast bei seiner Lesebühne Basspoem aufzutreten, ich bräuchte dafür nur Texte von zweimal zehn Minuten. Leichtfertig sagte ich drei Tage vor der Veranstaltung zu. Allerdings hatte ich nicht genug Material. Ich entschloss mich, statt Gedichten einfach mal was anderes vorzulesen, und stieß dabei dann wieder auf das Script von The Ghost. Ich setzte mich an den Computer und schrieb den ganzen Nachmittag. Als ich fertig war, meldete sich Florian noch einmal: "Ach übrigens, das Motto des Abends ist übrigens Herbst." Hervorragend. Ich ließ mich aber nicht beirren und las meine Geschichte einfach trotzdem.

Der Geist

Vor sechs Wochen ist meine Großmutter gestorben. Ich habe seit ein paar Jahren nicht mehr wirklich viel mit ihr zu tun gehabt, aber weh tat das natürlich schon. Ich meine, es lag nicht daran, dass ich sie nicht besuchen wollte, ich hatte ganz einfach zu viel zu tun. Studium, Studium finanzieren (ohne Bafög oder reiche Eltern ist das ziemlich zeitintensiv), und dank meiner Fernbeziehung bin ich wann immer es zeitlich und finanziell ging nach Berlin gefahren, meine Freundin besuchen. Und wenn ich dann wirklich mal die Zeit gehabt hätte, um mich bei meiner Oma zu melden, war mein Kopf immer so voll mit anderem Kram, dass ich in solchen Momenten einfach nicht daran gedacht habe. Und wenn ich mal daran dachte, dann hatte ich immer gerade keinen akuten Grund, oder es war schon zu spät, um sie noch zu stören, oder ich hatte halt eben keine Zeit.
Jetzt ärgere ich mich über jeden Tag, an dem ich sie nicht mal eben so angerufen habe. Ohne Grund, einfach nur so, um zu zeigen, dass es mich noch gibt, dass es mir gut geht und dass ich an sie denke.
Na ja, wie dem auch sei... es stellte sich heraus, dass ich trotz meiner mangelnden Kontaktaufnahme der Alleinerbe war. Das heißt... neben ein paar Bildern, die wohl aus irgendwelchen nostalgischen Gründen an Freunde meiner Oma gingen, Freunde die ich gar nicht kannte. Mein Großvater war gestorben, als ich zwei Jahre alt war, und zu meinen Eltern hatte meine Großmutter schon vorher jeden Kontakt abgebrochen, außer es ging um mich, an Geburtstagen oder Weihnachten. Und seitdem ich bei meinen Eltern ausgezogen bin, wurden selbst diese Anlässe telefonisch abgehandelt, wenn überhaupt.
Nach der Beerdigung bin ich also zum Haus meiner Großeltern gefahren. Ich spare Euch jetzt mal diesen ganzen „ich hätte das Haus und alles sofort hergegeben, wenn meine Oma wieder leben würde“-Krempel. Stimmte zwar, ist aber für die Geschichte völlig unerheblich. Außerdem ist es bei so etwas einfach immer schwer, Klischees zu vermeiden, denn ich glaube, jedem geht es so, wenn er geliebte Familienangehörige verloren hat.
Ich bin also durch das Haus gegangen und habe das ganze Zeug sortiert. Wovon kann ich mich gar nicht trennen, was würde ich gerne behalten wenn der Platz reicht, wofür haben andere Leute bessere Verwendung als ich, und was werde ich nicht einmal mehr auf dem Flohmarkt los? Tja, und auf dem Dachboden habe ich dann diese Kiste gefunden. So eine schwere, alte Holztruhe, von der die schwarze Farbe in großen Stücken abblätterte, bestimmt schon fünfzig, sechzig Jahre alt. Sie war verschlossen, aber den Schlüssel habe ich zusammen mit ein paar anderen Schlüsseln in einem Schuhkarton in der Küche gefunden. Jetzt müsst Ihr wissen: Auf dem Dachboden war es ziemlich warm und stickig. Schlecht durchlüftet, und vor fünfeinhalb Wochen war es ja dann auch noch zumindest etwas wärmer als jetzt. Aber die Kiste, die ich öffnete, hätte genauso gut ein Kühlschrank sein können. Mir kam mit einem Schwall der Geruch von Mottenkugeln entgegen, aber... so kalt. Und als ich dann den Inhalt der Kiste gesehen hatte, war es ganz vorbei. Briefe, irgendwelche Urkunden und Dokumente... und eine Uniform. Und ich weiß nicht, auf wen ich in dem Moment wütender war. Auf meinen Großvater, den ich nie gekannt habe, auf meinen Vater, weil er mir nie etwas erzählt hat, oder auf meine Großmutter, weil sie einen Wärter des Konzentrationslagers Flossenbürg geheiratet hat.
Tja, und seit dem Moment hatte ich dann den Geist am Hals. Und ja, ich weiß, Geister gibt es nicht, blah, blah, mir egal ob Ihr die Geschichte glaubt oder nicht. Tat ich zuerst ja auch nicht. Und eigentlich ist sie ja auch frei erfunden.
Jedenfalls musste das fiktive Ich aus der Geschichte auf den Schreck erst mal an die frische Luft. Wir wissen alle, dass es in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts so einiges an widerlichen Bastarden in Deutschland gab, und natürlich macht es Sinn, dass einige von uns jetzt so ein paar faule Äste in ihren eigenen Stammbäumen haben, aber bisher hatte ich einfach angenommen, der Kelch wäre an mir vorüber gegangen. Ist er aber nicht. Ich ging also vor die Tür, um eine Zigarette zu rauchen. Ich hatte nie im Haus meiner Großeltern geraucht, darum wollte ich jetzt nicht damit anfangen. Jedenfalls gucke ich so durch das Milchglasfenster in die Küche, und da sitzt doch einer am Küchentisch und sieht mich an. Ich schmeiße sofort die Kippe weg und gehe zurück ins Haus, aber der Typ ist weg. Jetzt ist die Küche direkt die erste Tür links, also hätte ich sehen müssen, wenn er da raus gekommen wäre. Und selbst wenn... im Wohnzimmer war die Tür in den Garten zu, die Rollläden waren unten, und das wäre der einzige Weg aus dem Haus gewesen, an mir war er ja nicht vorbeigekommen. Ich habe die Haustür abgeschlossen und danach systematisch das ganze Haus abgesucht. Da war niemand, aber... auf dem Dachboden war die Truhe wieder zu. Ich wusste noch genau, dass ich auf den Schreck alles einfach so liegen gelassen hatte, als ich runter gegangen war. Und jetzt war alles wieder ordentlich. Die Truhe war sogar wieder abgeschlossen. Aber ich wusste, ich war der einzige im Haus. Mit der Ausnahme von diesem Mann am Küchentisch, der ja anscheinend gar nicht da war.
Ich wollte erst mal nur weg. Wahrscheinlich war ich einfach noch von der Beerdigung ein bisschen mürbe, und die Nazitruhe hat mir dann den Rest gegeben.
Ich ging also wieder runter und hab noch eine Zigarette geraucht, um runter zu kommen. Dann hab ich ein paar Sachen für den Sperrmüll ins Auto gepackt – nichts vom Dachboden – und wollte losfahren. Und ich weiß nicht, ich muss irgendwie mit einem Karton gegen den Rückspiegel gekommen sein, jedenfalls war er verstellt. Als ich ihn wieder richtig justieren wollte, sah ich dann wieder den Geist, diesmal auf meinem Rücksitz, zwischen den Kartons. Ich hab mich natürlich sofort umgedreht, aber er war wieder weg. Jetzt fiel mir erst auf, wie kalt es im Wagen war.
In den nächsten paar Tagen habe ich mich erstmal vom Haus meiner Großeltern ferngehalten. Also... von meinem Haus. Daran muss ich mich, glaube ich, noch gewöhnen. Aber der Geist kam immer wieder. Ich wurde mitten in der Nacht wach, und er war fünf Zentimeter von meinem Gesicht entfernt. Oder ich klappte im Bad mein Spiegelschränkchen zu, und er stand direkt hinter mir. Immer still, nicht so ein Gestöhne und Kettenrasseln wie in schlechten Filmen. Einfach nur
so eine schemenhafte Gestalt. Genau konnte ich das Gesicht nicht erkennen, weil es zu verschwommen war und immer etwas waberte. Aber dieser durchdringende Blick war immer klar erkennbar, als würde er direkt in meinen Kopf sehen. Irgendwie anklagend. Und immer diese Kälte. Zum Glück waren gerade Semesterferien, und auf der Arbeit hatte ich wegen der Beerdigung sowieso ein paar Urlaubstage genommen, also bin ich kaum noch aus der Wohnung gegangen, höchstens mal zum Einkaufen oder zur Bank. Und er war immer dabei. Er war dann hinter der Kassiererin oder so und sah mich mit diesem Blick an... Außer mir konnte ihn niemand sehen, aber das wunderte mich irgendwie am wenigsten.
Zu Hause lief die Heizung auf Hochtouren. Im August. Und gebracht hat sie trotzdem nichts. Wann immer er im Raum war, musste ich trotzdem zwei Pullover übereinander anziehen. Geduscht habe ich nur noch in Badehose, weil der Geist jederzeit auftauchen konnte und ich vor meinem toten Nazi-Großvater nicht nackt sein wollte. Und Pornos gingen schon mal sowieso nicht. Aber der Geist teilte mir auch nicht mit, was er wollte, warum er jetzt in meiner Wohnung spukte, oder warum er das nicht all die Jahre zuvor im Haus meiner Oma tat. Ich fragte mich, ob ich ihn wieder in die Kiste bannen könnte, aber wusste nicht, wie. Auf Ansprache reagierte der Geist nicht, und als ich es mit Gläserrücken probierte, glotzte er mich nur mit diesem durchdringenden Blick an. Das Glas bewegte sich keinen Millimeter.
Ich habe dann mal im Internet recherchiert. Aber zu Geistern gibt es da nur jede Menge Unfug von Möchtegern-Experten. Ich bin sicher, die glauben auch an Gläserrücken. Wenn da irgendwer wirklich Ahnung hatte, konnte ich das nicht erkennen. Was das Verbannen von Geistern in Holztruhen anging, war die Suche jedenfalls ergebnislos. Unter dem Namen meines Großvaters habe ich auch nichts gefunden, aber ich konnte mich noch an ein paar Namen und Begriffe aus den Dokumenten in der Kiste erinnern. Und so bekam ich dann ein bisschen was über die ganze Geschichte heraus. Das Lager Flossenbürg war in Bayern, nicht so bekannt wie Auschwitz oder die ganzen anderen Lager, die immer wieder in Filmen und Romanen auftauchen, damit die Autoren sich die ganze Exposition abkürzen können, weil das Publikum eh schon mit dem jeweiligen Lager vertraut ist. Hätte ich vielleicht auch mal machen sollen. Das hätte mir solche Bandwurmsätze erspart.
Wie dem auch sei, ich fand meinen Großvater schließlich auf einem Foto. Er war natürlich sehr jung, aber ich kannte ja andere Fotos von ihm aus der Zeit. Bloß halt bisher keines, auf dem er die Uniform aus der Kiste auf dem Dachboden trug. Oder eines, auf dem er auf einen toten Gefangenen urinierte. Aber solche Fotos zeigt man seinen Enkeln ja auch nicht. Die müssen sie dann schon irgendwann im Internet finden. Mir war schlecht. Den toten Gefangenen fand ich noch auf einem anderen Foto, da dann zusammen mit einem Namen. Der Mann hieß Franz Steinhövel.
Ich schaltete den Computer aus und prompt spiegelte sich der Geist im Monitor, er stand mal wieder genau hinter mir. Er lachte nicht. Er sah mich auch nicht anklagend an, so wie sonst. Sein Blick war nur traurig. Anscheinend bereute mein Großvater seine Tat. Wenn auch 65 Jahre zu spät. Mir war das egal. Ich wollte ihm am liebsten ins Gesicht spucken. Aber er war ja körperlos, und die Spucke wäre eh nur auf meinem Wohnzimmerteppich gelandet, also ließ ich das auch sein.
Ich habe versucht, die ganze Geschichte zu ignorieren, zu vergessen, aber der Geist ließ mich nicht. Ständig sah er mich mit dieser wabernden Fratze an. Widerlich. Es half alles nichts: Ich musste zurück zur Kiste. Ich fuhr also zurück, wieder mit dem Geist auf meinem Rücksitz. Zurück auf dem Dachboden war die Kiste wieder offen, und der Inhalt lag wieder um sie herum verstreut. Alles war so, wie ich es das erste Mal zurückgelassen hatte. Ich dachte kurz darüber nach, die Uniform einem Museum zu spenden, aber ich entschloss mich anders, ging in den Garten und verbrannte sie. Aber es half natürlich nichts. Der Geist wartete schon im Wohnzimmer wieder auf mich. Wäre ja auch zu schön gewesen. Dieser Blick machte mich so langsam wirklich mürbe. Ich traute mich nicht, mich mit Freunden zu treffen, aus Angst, er würde mitkommen und mich entweder bloßstellen oder ihnen womöglich etwas antun. Mit ihnen reden konnte ich auch nicht, denn was sollte ich ihnen schon als Ausrede dafür präsentieren, dass ich nicht mehr aus dem Haus ging, aber auch keinen dort empfangen wollte? Die Wahrheit kam nicht in Frage, die hätte mir doch keiner geglaubt. Ich hatte keine Lust, womöglich noch in irgendeiner Gummizelle zu landen, mit einem stummen Nazigeist als einziger Unterhaltung. Ich musste den Geist also irgendwie loswerden, möglichst bevor ich feststellen konnte, ob mir eine Zwangsjacke steht oder nicht. Mein einziger Anhaltspunkt waren die Unterlagen und Briefe aus der Kiste. Also nahm ich sie mit nach Hause, damit ich sie in Ruhe durchsehen konnte. Der Geist würde mich sowieso nerven, aber zu Hause hatte ich wenigstens meinen Wohnzimmersessel, meine Stereo-Anlage und einen halben Kasten Kölsch. Und das Internet, für den Fall, dass ich irgendwelche neuen Anhaltspunkte aus den Briefen bekäme. Und das tat ich dann auch. In den Briefen hatte mein Großvater diesen Steinhövel erwähnt. Es hatte wohl Gerüchte gegeben, dass seine Frau, eine gewisse Magdalene Steinhövel, in das benachbarte Lager für Frauen eingewiesen worden war. Als Steinhövel versuchte, Kontakt zu ihr aufzunehmen, hat ihn dann mein Großvater erschossen. Von Reue war in den Briefen nichts zu spüren, für ihn war das einfach ein Teil seiner Arbeit. Na ja, das Foto aus dem Internet sagte mir genug. Aber gut, ich hatte jetzt einen weiteren Namen. Mit dem bewaffnet, fuhr ich den Computer wieder hoch. Und siehe da, ich fand Magdalene Steinhövel. Laut Fotos einer Abschiedsfeier auf der Internetseite ihres ehemaligen Schwimmvereins ist sie im März 2007 in ein Seniorenheim in der Eifel gezogen. Das Heim hatte ebenfalls eine eigene Seite. Ich notierte mir Adresse und Telefonnummer.
Eigentlich sträubte ich mich ja dagegen, dort anzurufen. Die arme Frau Steinhövel hatte nun schon genug mitgemacht in ihrem Leben, da brauchte sie mich nicht, der alte Wunden aufreißt. Und ich durfte nicht vergessen, dass der Geist mir auf Schritt und Tritt folgte. Wie würde er reagieren, wenn er Frau Steinhövel sieht? Würde er sie vielleicht sogar angreifen?
Aber die Alternative war, den Geist für immer zu behalten. Und das kam für mich auch nicht in Frage. Abgesehen von den Problemen, die der Geist ohnehin schon mit sich brachte, war der Mietvertrag meiner Wohnung schon gekündigt, also blieb mir nicht mehr viel Zeit bis zum Umzug, und es war noch zu viel zu tun. Ich konnte mich also nicht mehr länger vor dem Dachboden verstecken. Ich hatte ja auch nicht mehr viele Urlaubstage, und außerdem fängt bald das neue Semester an. Weder meine Arbeit noch die FH waren Orte, an denen ich den Geist haben wollte. Und an Berlin wollte ich gar nicht denken.
Nein, ich musste im Seniorenheim anrufen. Ich gab mich als Freund der Familie aus und erfuhr, dass sich Frau Steinhövel eine Lungenentzündung zugezogen hatte. Es war nicht abzusehen, ob sie das nächste Wochenende noch erlebte. Ich entschied mich, zum Krankenhaus zu fahren, solange das noch ging. Auf der Fahrt schien mich der Geist in Ruhe zu lassen. Kein Gesicht im Rückspiegel, und auch die Kälte blieb aus, zum ersten Mal seit ich die Truhe geöffnet hatte. Ich wähnte mich auf dem richtigen Weg. Im Krankenhaus angekommen, sah es schlecht aus. Frau Steinhövel war nicht bei Bewusstsein, der Zustand kritisch. Ich sah sie nur durch das Fenster in ihrer Tür.
Und das Fenster beschlug.
Ich spürte die Kälte, die mittlerweile schon gewohnte Kälte, durch die Tür hindurch. Der Geist hatte Magdalene Steinhövel gefunden. Ich wollte die Tür öffnen, aber der Geist hob die Hand. Die Tür bewegte sich nicht. Ich starrte den Geist an. Das war das erste Mal, dass er den Arm hob, und so sah ich zum ersten Mal die Nummer auf seinem Arm... das war nicht mein Großvater. Das war Steinhövel. Jetzt nahm er eine klarere, fast feste Form an, und ich erkannte das Gesicht. Ja, das war das Gesicht auf dem Foto. Steinhövels Geist ging zu seiner Frau und küsste sie sanft auf die Stirn. Sie öffnete die Augen. Er lächelte. Auch sie lächelte sanft... und starb in Frieden, vereint mit ihrem geliebten Mann.

Und auch ich hatte meine Ruhe gefunden. Den Geist sah ich seitdem nicht mehr.

Hunger

Da war ich dann also das erste Mal in der zweiten Runde von The Word is not Enough. Und was ist in so einer Situation sinnvoller, als das Publikum vor den Kopf zu stoßen? Aber der Reihe nach, erst einmal das Gedicht:

Hunger

Ganz allein. Ohne Geld. Die Stadt ist fremd,

weil er dort wenigstens keinen hat, den er kennt.
Die Scham wär viel zu groß, das hielte er nicht aus,
am liebsten bliebe er ganz zuhaus,
doch der Hunger treibt ihn raus.

Vor zwei Jahren der Überfall, danach war alles anders.
Kein Job, kein Geld, kein Freundeskreis mehr, heutzutage kann das
so schnell gehen: Gestern noch dick Kohle gemacht,
doch jetzt ist Schicht im Schacht,
und er streift einsam durch die Nacht.

Zum Bettler zu stolz, zum Taschendieb zu ehrlich.
Ein Banküberfall wäre viel zu gefährlich.
Das Sozialamt hat geschlossen, wenn er es erreicht.
Es hat sich gezeigt:
Man hat es nicht leicht.

Wie so oft schon zuvor zieht er seine Runde,
macht Jagd auf Ratten und streunende Katzen wie Hunde.
Leid tut es ihm schon, um jedes einzelne Tier.
Doch zu groß ist die Gier,
die er spürt - als Vampir.

Das Publikum atmet erleichtert auf, als es das hört,
weil ein erfundenes Monster es nicht ganz so sehr verstört
wie das tägliche Elend, einmal greifbar gemacht.
Ich geb zurück zu Herrn Bach.
Gute Nacht.

Wie bereits in früheren Posts erwähnt, ist "Herr Bach" natürlich der Moderator des Kölner Slams The Word is not Enough. Und ja, was soll ich sagen... da hatte ich in der ersten Runde einen locker-flockig witzigen Text über die KVB, die ja nun jeder Kölner kennt, vorgetragen, das Publikum wählt mich weiter, und ich komme mit so einem Downer. Aber das musste einfach raus. Die Grundidee, das Leben eines sozialen Außenseiters völlig deprimierend darzustellen, dann den Twist zu bringen, er ist ein Vampir, um dann dem Publikum eine Art Spiegel vorzuhalten, war mir schon ein paar Tage vor dem Slam durch den Kopf gegeistert. Und wieder einmal wurde der Text erst kurz vor dem Slam fertig, und ich hatte ja nichts anderes zum Lesen (außer der Geistergeschichte, die ich von Anfang an im Hinterkopf hatte, für den völlig illusorischen Fall, dass ich es mal ins Finale schaffte). Ich bin immer noch stolz auf das Gedicht, sowohl von der Form als auch von der Aussage her. Bloß war es vielleicht wirklich taktisch etwas unklug platziert. Aber macht ja nichts, gewonnen hat Michael Feindler, dem ich den Sieg nun wirklich gegönnt habe. Und immerhin hat mich nach dem Slam Florian Cieslik als Gast zu seiner Lesebühne Basspoem eingeladen. Danke nochmal an Florian.

Klassenkampf in Linie 7

Sicherlich der Köln-spezifischste Text bisher, mit verschiedenen Haltestellennamen und anderen Eigenheiten der KVB. Würde wahrscheinlich trotzdem in anderen Städten funktionieren, auch wenn die Leute da nichts mit einem Formel-9-Ticket anfangen können. Klassenkampf in Linie 7 hatte ich irgendwann zwischen März und Mai 2008 geschrieben. Wäre der Doppelpack aus Zuviel Haut und Valium besser beim Publikum angekommen, wäre es im Mai-Slam mein Text für die zweite Runde geworden. Weil man als Nicht-Titelverteidiger im Blue Shell allerdings immer einen Monat Pause einlegen muss und ich mich irgendwie noch nicht so ganz zu anderen Slams hervorgearbeitet hatte, kam erst im Juli die nächste Chance, aber da hatte ich ja bereits Eskapismus vorgezogen und kam wieder nicht ins Halbfinale. Im September war ich es dann endlich leid und brachte den Text gleich in der ersten Runde - und wurde weitergewählt. Noch einmal meinen Dank an alle beteiligten. Seitdem habe ich den Text auch im Sonic Ballroom beim Dichterkrieg vorgetragen, mit etwas weniger Erfolg, trotzdem kam er, so glaube ich, ganz gut an.

Klassenkampf in Linie 7

Es ist fünf vor zwölf am Neumarkt, die Bahn ist dreiviertel voll,
genau wie die Fahrgäste, die Fahrt wird sicher toll.
Hinten in der Bahn liegt Kotze, ich frag mich, was das soll,
und ich muss noch den ganzen Weg nach Poll.

Also, den Geruch von Kotze fand ich nie besonders geil,
weswegen ich dann auch sofort weiter nach vorne eil'.
Zwei Plätze sind noch frei im vorderen Abteil,
stelle ich fest, als ich mal kurz die Lage peil'.

Links sitzen Bonzenkinder, rechts asoziale Schnorrer,
ich hab' also die Wahl zwischen Sodom und Gomorrha.
Ich greif in meine Tasche, ich les g'rad' Max Frisch's Andorra
und ich setz' mich zu den Bonzen, kurz darauf beginnt der Horror.

"Meine Mum hat mir zum Fachabi bloß 'nen A4 geschenkt,
dabei wollt' ich 'nen TT, das hat sie irgendwie verdrängt.
Boah, ich hab so 'nen Hals, Mann, die gehört echt aufgehängt!"
Ich rück etwas zur Seite. Ich fühle mich beengt.

Der and're freie Platz ist aber auch nicht wirklich besser,
in den ritzt einer der Asis g'rade Muster mit 'nem Messer.
Die Arme voller Einstiche, die Fresse voll Mitesser,
seine kaputte Freundin, die schießt sich ab mit Cerveza.

Jetzt ist die Dose leer, und sie lallt einen Fluch:
"Verdammt, weil Du den Hals nicht vollkriegst, hab ich jetzt nicht genug!"
Ich ignorier' die Trulla und vertief' mich in mein Buch,
doch dank dem Audi-Fahrer links bleibt's bloß bei dem Versuch.

"So ein asoziales Pack wie die geht mir nicht in den Kopp.
Ich brauch doch nur zum Mäckes geh'n, da krieg' ich sofort einen Job.
Wobei, das will ich eig'ntlich gar nicht, die Asis da sind mir zu grob.
Aber das brauch' ich ja auch gar nicht," grinst, ich wart' auf den Lynchmob.

Ich mein, selbst ich fang' ja jetzt an, diesen Kerl etwas zu hassen.
So eine Arroganz ist ja nun wirklich nicht zu fassen.
Doch statt dem Arschgesicht jetzt 'ne Abreibung zu verpassen
nimmt's der potentielle Lynchmob ganz gelassen.

Ich hatte ja gedacht, der Messer-Typ wär' jetzt empört.
Vielleicht hat er das Muttersöhnchen einfach überhört?
Gut möglich, weil aus seinem Handy Wolfgang Petry röhrt.
Jetzt fühl' ich mich von zwei Seiten gestört.

Das Lindenthaler Bonzenkind redet inzwischen weiter:
"Mann, die Mucke von den Asis da ist scheiße," sagt er heiter.
Ich bin jetzt nicht mehr allein genervt, rechts von mir sitzt ein zweiter,
und der erscheint etwas gewaltbereiter.

"Jetzt halt' bloß Deine Fresse, sonst schlage ich Dir drauf!
Pass bloß auf, was Du sagst, ich rate Dir, pass auf!
Probleme hab' ich schon genug," oder des Reims wegen "zuhauf".
Und ich denk', jetzt nimmt das Unheil seinen Lauf.

Der arrogante Schnösel fängt auf einmal an, zu lachen.
Was dümmeres konnte er in der Lage wohl nicht machen.
Das einz'ge, was er damit schafft, ist nämlich Zorn entfachen,
und im Geist hör ich schon seine Knochen krachen.

Der Typ haut dem Milchbubi doch bestimmt gleich ins Gesicht.
So sehr der Arsch auch nervte, verdient hat er das nicht.
Am liebsten würd' ich mich raushalten, denn ich bin nicht sehr erpicht
auf Prügel, doch was tun ist jetzt wohl meine Pflicht?

Jetzt steh'n auch noch alle auf, ich hab Gefahr auf beiden Seiten.
Klassenkampf in Linie 7, ich dazwischen, wenn die fighten.
Etwas mulmig wird mir schon, das kann ich wirklich nicht bestreiten,
doch ein Ende kann ich dem hier nicht bereiten.

Die Initiative wird mir plötzlich abgenommen.
Ich sehe, wie von hinten fünf Gestalten rüberkommen.
Ach hätte ich doch bloß die nächste Straßenbahn genommen...
Da seh' ich einen Ausweis halb verschwommen:

"Kann ich die Fahrscheine mal seh'n?" hör ich ein'n von ihnen fragen.
Na gut, denk ich, dann wird sich jetzt vielleicht doch nicht geschlagen.
Ich zeig ihm meine Karten, er guckt rüber zu den Blagen,
und dann hör ich den Bengel etwas sagen.

Das hätt' ich mir ja zwei Minuten vorher nicht erträumt:
"Diese Typen fahr'n mit uns mit. Abo-Tickets, Formel 9."
"Wir fahr'n mit denen," hat jetzt auch der and're eingeräumt.
Tja, der Feind meines Feindes ist halt doch der beste Freund...

Übrigens sind mir all die einzelnen Elemente in dem Gedicht tatsächlich passiert, wenn auch nie alle zusammenhängend am gleichen Abend.

Eskapismus

Ja, ich weiß, sperriger Titel. Passte aber meines Erachtens ganz gut. Die Idee zu diesem Gedicht hatte ich an einem Donnerstag abend vor einem Slam. Eigentlich hatte ich vor, an diesem Slam Klassenkampf in Linie 7 zu lesen, das ich schon für den Slam mit Zuviel Haut und Valium in der Hinterhand hatte, für den Fall, dass ich es ins Halbfinale geschafft hätte. An besagtem Donnerstag hatte ich allerdings bei einer Freundin einen Film gesehen (ich glaube, es war The Illusionist mit Edward Norton), es wurde spät, und ich schlief auf ihrer Couch. Und wie ich so langsam dahindöse, kommt mir eine Idee. Was passiert in Fantasy-Welten eigentlich, nachdem der Tyrann gestürzt und die Prinzessin gerettet ist? Ich ließ mir von meiner Gastgeberin noch schnell einen Zettel und Stift geben und kritzelte schlaftrunken ein paar Stichworte im Licht der von außen durch den Vorhang scheinenden Straßenlaterne. Drei Tage später musste ich tagsüber noch arbeiten und habe bei jeder Gelegenheit meinen Block herausgekramt, um weiter an Eskapismus zu schreiben. Und ich kam und kam nicht zum Ende, weil mir immer noch ein Schnörkel mehr für die Abenteuer von Carlos und Rock einfiel. Fertig wurde ich dann tatsächlich zehn Minuten vor Beginn des Slams, sehr zum Erstaunen von Mike Godyla. Das Ergebnis gefiel mir so gut, dass ich es zusammen mit Valium beim NRW-Slam 08 in Münster gelesen habe.

Eskapismus

Rock der Held und der Zwerg namens Carlos
leben im Wald und nicht gerade gefahrlos.
Ihr Alltag besteht aus dem Töten von Schergen
des Bösen Barons von den Blutigen Bergen.

Das ganze Imperium hat er schon versklavt
und zahllose Schätze zusammengerafft.
Und weil sich das für einen Schurken gebührt,
hat er noch die Elfenprinzessin entführt.

Für Carlos und Rock eine Standardmission,
denken sie. Leider falsch, denn der böse Baron
hat mit ihr als Köder 'ne Falle gestellt.
Und sie schnappt dann auch zu, darin sitzt Rock der Held.

Zwerg Carlos hat nun nicht mehr sehr lange Zeit,
bis zum Tod beider Geiseln ist es jetzt nicht mehr weit.
Der Baron will Held Rock jetzt schnell exekutieren,
um ein Exempel zu statuieren.

In der Taverne der Wirtin Erika
trifft Carlos auf Magnus den Kleriker.
Auch Finn der Dieb will nicht fehlen,
der Baron hat viele Schätze zum Stehlen.

Zu dritt zieh'n sie los, die Sonne im Nacken,
um Rock zu befrei'n, den Baron zu zerhacken
und nebenbei der Prinzessin der Elfen
diesmal aber richtig zur Flucht zu verhelfen.

Sie erreichen die Festung im Schutze der Nacht.
Zuerst wird die Torwache flink umgebracht.
Danach eilt der Dieb schnell das Fallgitter rauf,
die Wachen auf der Brüstung geben gleich kampflos auf.

Nach viel Metzelei sind sie im vierten Stock
und öffnen geschwind dort die Zelle von Rock.
Zu viert kämpfen sie sich jetzt weiter zum Mädel
und spalten dabei auf dem Weg viele Schädel.

Manche längs, manche quer, und so manchen gleich doppelt
oder dank Magnus noch mit 'nem Blitzstrahl gekoppelt.
Erst kurz vor dem Elfenverlies kommt der Schrecken,
weil zwei Riesenzyklopen die Zähne dort blecken.

Finn zielt auf ein Auge, doch der monströse Schuft
fängt den Armbrustbolzen direkt aus der Luft.
Der and're verweist mit gigantischen Pranken
g'rade Carlos den Zwerg in seine Schranken.

Das bringt Rock jetzt in Rage, er brüllt, und er rammt
dem einen Einauge sein Schwert in die Hand.
Dieser hebt seinen Arm, Rock den Helden gleich mit,
und es beginnt ein merkwürdiger Ritt.

Der Gigant heult vor Schmerzen, seine Hand ist gepfählt,
und auf seinen Schultern sitzt jetzt Rock der Held.
Rock, der hält sich jetzt fest an den zottigen Haaren
und rammt seine Klinge ins Ohr des Barbaren.

Der andere Polyphem lässt ab vom Zwerg,
macht ein'n Schritt zurück und betrachtet sein Werk.
Rock springt von seinem gefällten Giganten
direkt auf den and'ren und bringt ihn ins Wanken.

Er zieht ihm den Scheitel nach mit seinem Schwert.
Das einzelne Auge schielt noch kurz sinnentleert,
dann sinkt er zusammen, die Lache ist rot,
er röchelt noch kurz, und ist dann auch schon tot.

Magnus der Kleriker stellt fest mit Scharfsinn:
Dort vorn ist die Zelle der Elfenmonarchin.
Die Tür ist verschlossen, doch dank dem Zwergenstahl
der Streitaxt von Carlos ist auch das ganz egal.

Drei Hiebe, die Tür zerspringt mit lautem Krachen,
davon alarmiert erscheinen zwei Wachen.
Sie seh'n die Zyklopen, oder vielmehr die Reste,
und das Weite zu suchen, halten sie für das Beste.

Und so ist die Prinzessin jetzt endlich befreit,
den Tyrannen zu stürzen ist es jetzt an der Zeit.
Doch es riecht nach Asche und verbranntem Haar:
Der Baron hat einen Feuerelementar.

Nach all den Strapazen gibt ein Held doch nicht auf,
und so nimmt Rock jetzt halt auch Brandwunden in Kauf.
Er stürzt sich mit Mut auf das brennende Ding,
einen kleinen Schutz bietet sein magischer Ring.

Magnus spricht göttliche Angriffsmagie,
und schon geht der Elementar in die Knie.
Der Baron fleht um Gnade, hebt bettelnd die Hände,
doch Carlos setzt nun seiner Herrschaft ein Ende.

Der Baron ist vernichtet, das Reich ist befreit...
zumindest für absehbare Zeit.
Denn der nächste Tyrann wartet doch sicher schon,
übernimmt bald das Zepter vom bösen Baron.

Für Helden gibt es immer etwas zu tun.
Doch nun haben sie endlich Zeit, auszuruh'n.
In Erikas Schänke, bei Spießbraten und Met,
da fliehen sie vor ihrer Realität.

Carlos spielt einen Schüler, Rock einen Buchhalter,
Magnus den Kassierer am McDonald's-Schalter.
Finn spielt einen kleinen Ganoven mit Stil,
die Prinzessin leitet das Spiel.

Es ist eine Welt voller Fantasie,
mit zahlreichen Maschinen, doch ohne Magie.
Keine Untoten, Trolle oder Telepathen,
dafür Kapitalisten und Bürokraten.

So verbringen die fünf auch schon mal ganze Nächte
und kämpfen, mit Würfeln bewaffnet, Gefechte.
Die anderen Helden schütteln nur die Köpfe,
es gibt doch keine Welt voller Schalter und Knöpfe.

Voller Autos, Computer und Eisenbahn,
so mit Kernkraft, Ozonloch und Wireless-Lan.
Doch die fünf stören sich nicht an solchen Banausen.
Als Weltenretter braucht man manchmal halt Pausen.

Carlos der Zwerg ist natürlich eine Anspielung auf die US-Serie Freaks & Geeks mit James Franco, Seth Rogen und Jason Segel. Magnus und Rock waren zwei meiner Charaktere in Dungeons und Dragons. Finn, der Dieb, war ein dritter, allerdings hieß er bei mir damals Leonidas. Seit 300 verfilmt wurde, weckt der Name allerdings zu viele andere Assoziationen, außerdem reimt er sich nicht gerade auf sehr viele Wörter. Und noch mehr Augenroller wie Erika/Kleriker wollte ich dann doch nicht reinnehmen.

Zuviel Haut

Zuviel Haut ist sicherlich neben Lampenfieber einer der schwächsten Beiträge von mir, der Vollständigkeit halber will ich ihn aber trotzdem mit aufführen. Ich habe ihn bisher nur einmal gelesen und habe dann auch noch den Fehler gemacht, ein kurzes Gedicht über den 1. FC Köln vorwegzustellen, das gerade am Tag des Aufstiegs aus der 2. in die 1. Bundesliga nicht besonders gut ankam. Wer daran Interesse hat, findet es zusammen mit Zuviel Haut und Valium als Videoclip bei Kabadu. Aber jetzt zum eigentlichen Gedicht, dann haben wir es hinter uns:

Zuviel Haut

Wer sich ins Museum traut
und sich dort die Kunst anschaut,
bei dem wird die Vermutung laut:
Zuviel Haut.

Abstrakte Akte,
abgeschmackte Ausgepackte,
hingekackte Artefakte,
abgefuckte Nackte.

Auf allen Fernsehsendern außer vielleicht auf den dritten
lassen sich die Frauen heute nicht mehr lange bitten.
Wo man heut' auch hinzappt, überall nur blanke Titten,
und Du fragst Dich: Was sind das nur für Sitten?

Entblößte Brüste,
liebkoste Nüsse,
inbrünstige Küsse,
geflüsterte Gelüste.

Ob in der Kneipe, auf der Straße,
kaum verhüllte Model-Maße,
auch in der Werbung nur Extase,
nicht mehr Punica-Oase.

Fernbeziehungen sind doof.

Sind sie übrigens wirklich.

Valium

Valium war mir lange Zeit von meinen eigenen Texten der liebste. Inspiriert durch einen Bekannten meiner guten Freundin Isa und durch einen Ausspruch meines Vaters, hatte ich den Text hier im Ärmel, sollte ich bei meinem ersten Slam unerwartet in die zweite Runde kommen. Mittlerweile habe ich diesen Text bei THE WORD IS NOT ENOUGH, beim NRW-SLAM 2008 und auch schon im Radio, in der Sendung die FUNKENDE SCHATULLE vortragen dürfen.

Valium

Valium? Valium auch nicht?
Sag mir, valium ziehst Du so ein Gedicht?
Wenn Dich einer fragt: "Bist Du nicht mehr ganz dicht"?
Na, dann nimmst Du wohl Dein Valium nicht.

Wenn alle Valium nehmen würden, dann wäre die Welt besser.
Keine Folter, keine Kriege, und kein DSDS mehr.
Keine Vergewaltigungen und kein ungewolltes Kind,
weil alle viel zu müde zum poppen sind.

Valium wäre das Ende des Alkoholismus,
denn zuviel Valium und Alkohol verträgt kein Organismus.
Von Vorurteilen und Rassismus wär'n wir alle plötzlich frei,
denn dann sind wir alle gleich, dann sind wir high.

Valium? Valium auch nicht?
Sag mir, valium ziehst Du so ein Gedicht?
Wenn Dich einer fragt: "Bist Du nicht mehr ganz dicht"?
Na, dann nimmst Du wohl Dein Valium nicht.

Nach zuviel Valium fühl ich mich wie verprügelt von 'nem Catcher.
Zuviel Valium ist gar nicht gut, sonst geht's Dir wie Heath Ledger.
Auf die Dosierung kommt es an, doch damit kommt nicht jeder klar,
vielleicht ist Valium doch nicht so wunderbar.

Valium? Vielleicht doch besser nicht.
Vielleicht ist Valium doch nichts für Dich.
Für die Verbesserung dieser Welt braucht's eine andere Idee:
Legalisieren wir doch einfach THC.

Beim NRW-Slam in Münster fielen übrigens einigen Leuten bei der Heath-Ledger-Zeile die Kinnlade herunter. Von denen bekam ich hinterher auch nur wenige Punkte. An dieser Stelle möchte ich mich also bei allen entschuldigen, deren Gefühle ich ungewollt verletzt habe. Ich hatte selbst überlegt, ob ich die Zeile (damals kurz nach dem Todesfall) reinnehmen soll oder nicht, habe mir dann aber letztlich gesagt:

Why so serious?

Die Nacht der Lebenden Toten


Das hier war mein zweites Gedicht bei meinem ersten Slam. Standardmäßig hat ja jeder fünf Minuten, darum hatte ich Lampenfieber eher kurz gehalten. Denn was bringt es, wenn das Lampenfieber weg ist, aber der Auftritt schon vorbei?

Der eigentliche Kern meines ersten Auftrittes sollte also das hier werden. Inspiriert durch mein Halloween- und Karnevalskostüm einige Zeit zuvor (siehe Foto) hatte ich ein altes Comic-Script herausgekramt, das aufgrund der damaligen Überpopularität von Zombies in Comics (Marvel Zombies, The Walking Dead, Dead Men Tell No Tales, etc) in der Schublade verstaubte. Also das ganze in Reimform umgeschrieben und zeitlich so gekürzt, dass ich zusammen mit Lampenfieber ja nicht die fünf Minuten Redezeit überschreite. Wenn ich schon Stimmen bekomme, dann sollten die ja nicht auch noch durch Punktabzüge verringert werden.

Die Nacht der Lebenden Toten

Der Nekrophile Kalle arbeitet in der Leichenhalle,
und er macht sich dort ganz gerne über frisch verstorbene her.
Doch durch Strahlung aus dem All kommt es zu einem Sonderfall,
und so stößt er heut' zur Abwechslung erstmals auf Gegenwehr.

Woanders rutscht wer über 'ne Prostituierte rüber,
plötzlich setzt sein Herzschlag aus. Sie stellt kurz fest: Der ist hinüber.
Doch dann steht er wieder auf, mit einem Hunger auf Gehirne.
Sein erstes Opfer ist die etwas überraschte Dirne.

Die Schüler in der Schule hatten Angst vor schlechten Noten,
doch die Lehrer zählen auch schon zu den wandelnden Toten.
Der Priester schnappt sich den Messdiener, der sonst den Weihrauch schwenkt,
doch er will nur das Gehirn, nicht was Ihr jetzt wieder denkt.

Die Nacht der lebenden Toten hat begonnen.
Sie macht vor niemandem halt, nicht vor Kindern, nicht vor Nonnen,
wenn Du den Löffel abgibst oder Zombieblut berührst,
dann haben sie Dich schon dazugewonnen.

Drei Wochen später... die Menschheit ist am Ende.
Im Kampf gegen die Zombies gab's keine Heilung, keine Wende.
So langsam wird klar, dass die Menschheit diesen Kampf verliert.
Neunzig Prozent der Säugetiere sind schon infiziert.

So verschanzen sie sich also in 'ner Blockhütte im Wald.
Zwei Männer, 'ne Frau, ihre Tochter, kaum acht Jahre alt.
Sie hab'n die Zombies abgehängt, doch trotzdem wohl verschissen:
Ein Zombie-Köter hat g'rad' eben noch das Kind gebissen.

Die Männer bring'n das Mädchen in den Nebenraum nach hinten.
Die Mutter hört schon bald darauf zwei Schüsse aus Schrotflinten.
Mit Tränen in den Augen fängt sie lauthals an, zu schreien.
Den Gefühlsausbruch kann man in der Lage wohl verzeihen.

Die zwei komm'n wieder, alle sind ein paar Minuten stumm.
Nur ein paar Insekten fliegen surrend um das Licht herum.
Die Vorräte werd'n für drei Erwachs'ne wohl acht Wochen reichen...
Doch plötzlich sieht die Frau bei ein'm der Männer die Vorzeichen:

Die Haut wird blass, der Blick wird leer, und es ertönt ein Gähnen.
Nur zwei Sekunden später hat er Kopfhaut zwischen den Zähnen.
Auch der and're ist jetzt infiziert, er schnappt sich das Gewehr,
erschießt den Zombie und sich selbst... die Vorräte reichen jetzt wohl doch für mehr.

Die Frau ist ratlos, panisch gar. Wie konnte das passieren?
Wie konnten ohne Blutkontakt die zwei sich infizieren?
Ein böser Verdacht kommt auf, ihr Herz beginnt, laut zu pochen.
Verdammt, sie hat recht, beide sind von Mücken zerstochen.

Sie muss sich setzen, die Erkenntnis schlägt ihr auf den Magen.
der Virus in dem Zombieblut wird durch Mücken übertragen!
Verzweifelt schnappt sie sich die Flinte und macht den Cobain,
denn sie hat bereits die ersten Stiche am eig'nen Arm geseh'n.

Schuss.

An der Stelle habe ich dann meinen Schnellhefter mit den Texten zusammengerollt und mich damit "erschossen". Komplett mit Fall nach hinten und zehn Sekunden Regungslosigkeit auf dem Bühnenboden. Kam dann auch gar nicht so schlecht an, ich glaube, ich bin am Ende fünfter oder sechster von acht geworden. Rückblickend sind die Reime allerdings noch ziemlich holperig, die erste Strophe passt vom Reimschema her überhaupt nicht zum Rest, und was habe ich mir bloß bei den Nonnen gedacht? Na ja, vielleicht überarbeite ich das ganze ja nochmal zu irgendeinem passenden Anlass. Halloween ist ja zum Beispiel nicht mehr lange hin.

Lampenfieber

Lampenfieber war mein erster Slam-Text, entstanden auf dem Heimweg nach der Februar-Ausgabe des Slams THE WORD IS NOT ENOUGH. Einerseits war mir klar, dass ich so etwas auch mal machen will, andererseits hatte ich bereits als popeliger Assistent auf der Bühne etwas wackelige Knie. Die Mission war also klar: Ich musste mein Lampenfieber irgendwie loswerden. Mein Plan: Ich verarbeite einfach alle Symptome, die auftreten könnten, in einem Gedicht. Und wenn ich dann innerhalb des Gedichtes langsam ruhiger werde, überträgt sich das vielleicht auf mich, und ich komme etwas besser klar. Poetry-Voodoo sozusagen. Und es hat auch einigermaßen geklappt. Beim zweiten Gedicht (Die Nacht der lebenden Toten) war ich jedenfalls schon etwas entspannter. Ich kann die Methode eigentlich empfehlen, allerdings solltet Ihr ein etwas besseres Gedicht schreiben als das hier. Ich meine, was hat mich da geritten, von Red Bull und irgendwelchen Koks-Dealern zu schreiben?


Lampenfieber

Angespannt von der Kopfhaut bis zur Zehenspitze
stelle ich fest, dass ich am ganzen Körper schwitze.
Die Scheinwerfer verbreiten wirklich eine Mörderhitze,
entfallen sind mir alle meine Witze.

Die fünf Minuten Redezeit erscheinen mir wie Stunden.
Die and'ren haben sich heut' abend auch nicht so gewunden...
Mein letztes bisschen Selbstbewusstsein ist schon fast verschwunden,
ich steh starr, wie an der Bühne festgebunden.

Lampenfieber.

Haben die jetzt g'rad' etwa auch noch das Licht gedimmt,
denke ich noch, während mein Blick schon leicht verschwimmt.
Gleich gehen mir dann auch noch die Reime aus, bestimmt.
Es geht schon los, darauf reimt sich nur "Klimt"... Klimt?!

Noch nie zuvor wär ich lieber im Boden drin versunken.
Ach, hätt' ich statt der Bionade bloß Red Bull getrunken.
Beim Koks-Dealer vorhin hab ich noch dankend abgewunken.
Und jetzt und hier fehlt mir dann prompt der Funken.

Lampenfieber.

Meine Knie fang'n an zu zittern, mein Puls macht langsam Krach.
Ich frage mich, wie hab'n das bloß die anderen gemacht?
Irgendwie hab ich mir das hier anders gedacht,
anders vorgestellt, so wie die Seite von Herrn Bach.

Hey, da lächelt endlich jemand über einen Gag.
Die Schneidezähne sind nicht mehr versteckt, sondern gebleckt (und... ein bisschen verdreckt, das sieht nach Spinatpizza zum Mittagessen aus).
Ich hatte schon gedacht, die Blamage wär' perfekt.
Stattdessen habe ich g'rade entdeckt:

Lampenfieber.

Weg.

Gruselig. Vollkommen klar, dass ich an dem Abend nicht weitergekommen bin. Bin mal gespannt, wie das zweite Gedicht des Abends gealtert ist. Und der Herr Bach in der vorletzten Strophe war natürlich der Moderator des Slams, bei dem ich meinen ersten Auftritt hatte. Später führte er dies als das erste Mal an, dass ihm in meinen Texten ein V-Effekt auffiel, den er für charakteristisch für meine Texte hält. Um ehrlich zu sein, hatte ich mir darum nie wirklich Gedanken gemacht, das ist wohl einfach eine Spielart meines scheinbar etwas ungewöhnlichen Humors.

Intro

In diesem Blog werde ich ab jetzt meine Texte, Gedichte und sonstigen Krempel, der vielleicht auch für andere interessant ist, für die Nachwelt virtuell festhalten. Für die etwas klobige Web-Adresse möchte ich mich gleich entschuldigen, die Variante ohne Bindestrich war leider schon vergeben. Passt aber so auch, würde ich sagen.

Bevor ich zum Wesentlichen komme, noch kurz zu meiner Person: Ich bin 1980 geboren, was mir niemand glaubt, der mich sieht. Im Januar 2008 habe ich dann meinen ersten Poetry-Slam verfolgt. Vorher hatte ich gedacht, so ein Slam sei deutlich näher am Freestyle-Battle, also ein meist holperig gereimter Schwanzvergleich.

Tja, so kann man sich irren.

Im Februar war ich dann das erste Mal Assistent beim Stimmen-Auszählen, und im März stand ich dann das erste Mal mit eigenem Material auf der Bühne. Das Ergebnis gibt's dann im nächsten Post, das ist übersichtlicher. Denke ich.