Das wird jetzt eine Reihe, vielleicht sogar ein ganzes Buch.
Selbstverliebt
2003.
"Geh. Es funktioniert ja doch nicht."
"Aber... ich liebe Dich."
"Nein. Du liebst mich nicht. Du hast mich nie geliebt. Du liebst doch nur Dich selbst."
Und mit diesen Worten wurde Claudia vor die Tür gesetzt. Es war die fünfte Beziehung in drei Jahren, die scheiterte. Eine Frau nach der anderen verliebte sich in sie, zog mit ihr zusammen, bloß um dann festzustellen, dass Claudia tatsächlich nichts und niemanden so sehr liebte wie sich selbst. Und so stand sie nun mal wieder mit ihrer Reisetasche, dem Rucksack und der kleinen Topfpflanze nachts im Regen an der Bushaltestelle. Und der Bus war gerade weg.
Frustriert trat sie gegen die Scheibe der Haltestelle. Und da fiel etwas vom Dach. Eine Armbanduhr. Claudia zog sie an. Sie passte. Ein Ring war um das Ziffernblatt herum angebracht. Sie drehte ihn verspielt ein kleines Stück gegen den Uhrzeigersinn. Und der Bus kam zurückgefahren, hielt, und dann fuhr er weiter rückwärts entgegen der Fahrtrichtung. Ein zweiter Bus kam und fuhr, und noch einer, und noch einer, dazwischen zahlreiche andere Autos, alle rückwärts. Es hörte auf, zu regnen, und es wurde wieder hell. Alles innerhalb weniger Sekunden. Claudia drehte sich um. Ihre Sachen, die sie auf die Sitzbank gestellt hatte, waren weg. Claudia kam ein Verdacht. Sie packte den Ring und drehte ihn in die andere Richtung. Autos und Busse fuhren jetzt wieder vorwärts, es wurde wieder dunkel, es begann zu regnen, und dann sah sie sich selbst mit Tasche, Rucksack und Pflanze auf die Bushaltestelle zukommen. Sie sah, wie sie die Uhr fand und verschwand. Ihre Sachen blieben, wo sie waren. Sie nahm die Sachen und brachte sie erst einmal zu ihren Eltern, wo sie immer blieben, bis Claudia wieder zu einer anderen zog. Dann ging sie in den Park, um weiter mit der Uhr zu spielen. Sie sprang drei Jahre in die Zukunft, nach 2006. Soweit sah alles unverändert aus. Sie vergewisserte sich, dass Deutschland nicht zurück zur D-Mark gewechselt ist und kaufte eine Zeitung. Es schien sich wirklich nichts geändert zu haben. Sie hob Geld von ihrer Bank ab, dachte kurz über die Zinsen nach, die man mit einer Zeitmaschine einstreichen konnte, machte dann noch zwei kurze Zeitreisen und staunte dann über die Nullen auf ihrem Konto. Dann ging sie erst einmal feiern. In ihre Lieblingsdisco. Es gab eine neue Türsteherin, die Claudia nicht erkannte. Sie sagte allerdings: "Deine Schwester ist schon drin", was Claudia etwas verwirrte.
Sie betrat die Discothek, bestellte sich etwas zu trinken, ging zur Tanzfläche... und sah sich selbst. Eine etwas ältere Version von sich selbst, aber es war ja auch drei Jahre später. Die ältere Version lächelte ihr zu. Sie tanzten eine Weile zusammen. Die Musik war zu laut, um sich zu unterhalten, also holten sie sich nach einer Weile noch ein paar Drinks und gingen nach draußen.
Dort angekommen, fragte Claudia ihr älteres Selbst aus.
"Wie kann es uns denn zweimal geben?"
"Du vergisst dieses Ding an Deinem Handgelenk. Ich hab auch eine. Ich bin älter als Du. Du wirst in den nächsten drei Jahren einiges erleben. Ich sage nicht zuviel, weil ich damals von mir auch nicht mehr erfahren habe, aber es wird eine schöne Zeit. Und eines Tages wirst Du dann zu mir und reist hierhin zurück."
"Hmmm.,, Ich habe so eine Uhr. Du hast auch eine."
"Dieselbe."
"Funktioniert das auch mit anderen Sachen? Könnte ich einen Goldbarren, den ich hätte, zwei Minuten in die Vergangenheit schicken und hätte dann zwei? Weil... das könnte man ja eigentlich ewig machen und hätte unendlich viele Goldbarren, oder?"
"Nein. Du hättest zwei. Aber nur bis zu dem Moment, in dem der Goldbarren in die Vergangenheit reist. Denn wenn er das nicht tut, wäre es ja immer nur einer gewesen. Er muss zurückreisen. Aber weil nur einer zurückreist, werden es nie mehr als zwei."
"Verstehe ich nicht. Wieso können denn nicht einfach beide zurückreisen? Wären es dann nicht vier?"
"Aber wie lange denn? Die zwei anderen müssten ja doch wieder zurück, damit es überhaupt vier werden können. Und einer muss zurück, damit es überhaupt zwei werden können. Sicher, vorübergehend kannst Du Dir so theoretisch viertausend Goldbarren oder mehr zusammenzeitreisen. Aber so oder so, am Ende bleibt immer nur einer übrig. Du kannst nichts dauerhaft vervielfältigen."
"Hmmm... Ich schätze, das macht Sinn. Schade. Ich hätte gerne uns zwei dauerhaft vervielfältigt."
"Wenn Dir vorübergehend reicht..."
"Kann ich Dich überhaupt berühren? Ich hatte mal einen Film gesehen, in dem die gleiche Materie nicht zweimal den gleichen Raum beanspruchen kann."
"Aber es ist doch nicht die gleiche Materie. Weißt Du, wieviele Hautteilchen Du jeden Tag verlierst? Wieviele Zellen Dein Körper abstößt? Die alle werden ersetzt. Wenn ich Dich berühre..."
Die ältere Claudia berührte die jüngere an der Wange.
"...dann passiert nichts. Da sprühen keine Funken."
Die jüngere Claudia war anderer Meinung. Im Moment passierte eine Menge. Und ob da Funken sprühten. Und die beiden Claudias küssten sich.
Die Türsteherin kam zufällig vorbei und schüttelte angewidert den Kopf.
"Es ist okay, das ist kein Inzest. Wir sind überhaupt keine Schwestern," erwiderte Claudia lächelnd.
Die beiden zogen zusammen. Sie lebten von den Zinsen auf dem Sparkonto, das die jüngere in der Vergangenheit eröffnet hatte. Claudias Exfreundinnen hatten Recht. Sie liebte sich selbst. Doch diese Liebe war ein duplizierter Goldbarren auf Zeit. Sie war nur vorübergehend. Irgendwann musste die jüngere Claudia in der Zeit zurückreisen, um die ältere Claudia zu werden, sonst könnte es diese Liebe nie geben. Je länger sie warteten, desto nachdenklicher wurden beide Claudias. Was würde passieren, wenn die jüngere nicht zurückreiste? Konnte man es wagen? Oder würde sich die ältere automatisch auflösen, retroaktiv aus der Zeit ausgelöscht? Nein, besser nur drei Jahre gehabt und dann verloren zu haben, als nie geliebt zu haben. Und schweren Herzens drehte die jüngere Claudia an ihrer Armbanduhr - und verschwand in die Vergangenheit. Ihr fiel der Abschied leichter. Sie hatte ja noch drei Jahre mit der Liebe ihres Lebens vor sich. Die Ältere hingegen nahm es bedeutend schwerer. Aber... auch sie hatte doch noch ihre Armbanduhr... Und kurz, nachdem ihr die Lösung einfiel, erschien sie auch schon: Eine dritte Claudia, aus dem Jahre 2028, die die gleiche wie die beiden anderen war - und doch eine andere. Älter. Erfahrener. Reifer. Eine, die bereits eine ältere Version von sich selbst neunzehn Jahre lang begleitet, geliebt und gepflegt hat, bis zu deren Tod. Und jetzt würde sie selbst gepflegt. Begleitet. Geliebt. Bis zu ihrem Tod. Eine schöne Vorstellung.
Und die ältere Claudia legte ihre Armbanduhr ab und legte sie auf die Straße. Sie brauchte sie jetzt nicht mehr. Möge sie jemand anderem Glück bringen.
Sie hatte ihres schon gefunden.