19. November 2009

United States of Utopia

United States of Utopia


Letzte Nacht träumte ich, es käme eine gute Fee zu mir. Sie sagte, ich hätte drei Wünsche frei. Und ich habe gesagt: „Ich wünsche mir Weisheit.“

Denn ich wollte die anderen beiden Wünsche sinnvoll nutzen. Und wie ich so darüber nachdenke, ist mir der zweite Wunsch klar: Bescheidenheit. Denn sonst würde mich der dritte Wunsch nie zufrieden stellen. Und als die Fee nach dem dritten Wunsch fragte, sagte ich:


Stell Dir eine Welt vor, in der alle Menschen plötzlich über Nacht vernünftig werden. Eine Welt, in der die Menschen allesamt die richtige Balance finden. Das richtige Maß. Die richtige Mischung.


Das richtige Maß Toleranz zum Beispiel. Stell Dir eine Welt vor, in der wir keinen Unterschied mehr machen zwischen Hautfarben, Kulturen, Herkunftsland oder Geschmack. Warum sollten wir denn auch einen Unterschied machen? Jeder Mensch ist anders, und das sollten wir feiern, denn die Alternative wäre doch scheiße-langweilig. Stell Dir eine Welt vor, in der wir endlich die Gemeinsamkeiten zwischen Religionen zelebrieren, statt uns weiterhin wegen der paar kleinen Unterschiede zu diskriminieren, zu hassen oder zu töten. Eine Welt, in der wir einsehen, dass Menschen nun einmal unterschiedliche sexuelle Vorlieben haben, die alle gleichermaßen berechtigt sind und auf die wir sowieso keinen Einfluss haben. Solange alle Beteiligten bewusst und aus freiem Willen tun, was sie tun, und solange keiner leidet (es sei denn, er will), gibt es doch keine Probleme. Das einzige, was Schwule und Lesben tatsächlich gefährden, ist ein weiteres Anwachsen der Überbevölkerung auf der Erde.


Stell Dir vor, dass wir alle eine einheitliche Sprache entwickeln, so einfach, dass sie jedem so natürlich wie die eigene Muttersprache vorkommt, und doch so flexibel, dass jeder Witz, jedes Wortspiel, jedes Gedicht funktioniert und so elegant wirkt wie in der Sprache, in der sie ursprünglich verfasst wurden. Wenn alle Menschen das richtige Maß Disziplin besäßen, würden bald alle diese Sprache sprechen. Wir bräuchten keine Grenzen mehr. Keine Kriege. Das Geld, das unsinnig in die Rüstungsindustrie, in die Spionage oder in die Politik gesteckt wird, könnte für Bildung, für Forschung und Entwicklung benutzt werden. Tatsächlich bräuchten wir kein Geld mehr, wenn alle Menschen vernünftig wären. Sie würden alle über genau die richtige Mischung aus Ehrgeiz und Bescheidenheit verfügen. Es wäre eine Welt, in der alle täten, was immer sie können, so gut sie es können. In der jeder jeden Beruf lernen kann, den er will. Und alle würden bekommen, was sie brauchen, alles, was sie wollen, aber es wäre genug für alle da.


Wenn alle das gleiche Maß an Wissensdurst hätten, könnten wir die Erfindungen machen, die wirklich benötigt werden. Wir würden als ein Volk zusammen den Weltraum erkunden. Wir würden lernen, andere Planeten zu terraformen und unseren eigenen zu reparieren. Wir würden keine Atomkraftwerke mehr benötigen. Radioaktive Abfälle würden wie der restliche Müll gefahrlos auf molekularer Ebene auseinandergenommen, um wie Legosteine zu neuen Rohstoffen zusammengesetzt zu werden. Zu Nahrung. Zu frischem Wasser.


Wir würden Hungersnöte beenden. Alle Krankheiten ausrotten. Wir könnten Aids heilen. Parkinson. ADS. Einen Impfstoff schaffen gegen Krebs. Alzheimer. Schluckauf. Wir könnten eine neue, genetisch veränderte Form von Karies schaffen. Kariesbakterien, die sich von Essensresten, Zahnbelag und herkömmlichen Kariesbakterien ernähren, deren Ausscheidungen aber nicht wie bisher den Zahnschmelz angreifen, sondern stärken – und zugleich minzige Atemfrische produzieren. Oder Erdbeer.

Frauen würden nur dann schwanger werden, wenn sowohl sie als auch der potentielle Vater es aktiv wollen. Und es würde nicht mehr wehtun.

Stell Dir...“


Und die Fee sagte: „Okay, okay, ich kann mir das alles vorstellen. Also gut. Ist das Dein letzter Wunsch? Dass die Welt über Nacht so wird?“


Und ich sagte:


Nein. Ich wünsche mir nicht, dass wir über Nacht so werden. Denn dann wüssten wir das alles gar nicht zu schätzen. Ich wünsche mir nicht, dass wir diesen Zustand jemals wirklich zu 100% erreichen. Denn damit kämen wir gar nicht klar. Nein. Ich wünsche mir, dass alle Menschen gemeinsam auf diese Utopie hinarbeiten. Denn nur so können wir jemals glücklich werden.“

11. Oktober 2009

Selbstverliebt

Das wird jetzt eine Reihe, vielleicht sogar ein ganzes Buch.

Selbstverliebt
2003.
"Geh. Es funktioniert ja doch nicht."
"Aber... ich liebe Dich."
"Nein. Du liebst mich nicht. Du hast mich nie geliebt. Du liebst doch nur Dich selbst."
Und mit diesen Worten wurde Claudia vor die Tür gesetzt. Es war die fünfte Beziehung in drei Jahren, die scheiterte. Eine Frau nach der anderen verliebte sich in sie, zog mit ihr zusammen, bloß um dann festzustellen, dass Claudia tatsächlich nichts und niemanden so sehr liebte wie sich selbst. Und so stand sie nun mal wieder mit ihrer Reisetasche, dem Rucksack und der kleinen Topfpflanze nachts im Regen an der Bushaltestelle. Und der Bus war gerade weg.
Frustriert trat sie gegen die Scheibe der Haltestelle. Und da fiel etwas vom Dach. Eine Armbanduhr. Claudia zog sie an. Sie passte. Ein Ring war um das Ziffernblatt herum angebracht. Sie drehte ihn verspielt ein kleines Stück gegen den Uhrzeigersinn. Und der Bus kam zurückgefahren, hielt, und dann fuhr er weiter rückwärts entgegen der Fahrtrichtung. Ein zweiter Bus kam und fuhr, und noch einer, und noch einer, dazwischen zahlreiche andere Autos, alle rückwärts. Es hörte auf, zu regnen, und es wurde wieder hell. Alles innerhalb weniger Sekunden. Claudia drehte sich um. Ihre Sachen, die sie auf die Sitzbank gestellt hatte, waren weg. Claudia kam ein Verdacht. Sie packte den Ring und drehte ihn in die andere Richtung. Autos und Busse fuhren jetzt wieder vorwärts, es wurde wieder dunkel, es begann zu regnen, und dann sah sie sich selbst mit Tasche, Rucksack und Pflanze auf die Bushaltestelle zukommen. Sie sah, wie sie die Uhr fand und verschwand. Ihre Sachen blieben, wo sie waren. Sie nahm die Sachen und brachte sie erst einmal zu ihren Eltern, wo sie immer blieben, bis Claudia wieder zu einer anderen zog. Dann ging sie in den Park, um weiter mit der Uhr zu spielen. Sie sprang drei Jahre in die Zukunft, nach 2006. Soweit sah alles unverändert aus. Sie vergewisserte sich, dass Deutschland nicht zurück zur D-Mark gewechselt ist und kaufte eine Zeitung. Es schien sich wirklich nichts geändert zu haben. Sie hob Geld von ihrer Bank ab, dachte kurz über die Zinsen nach, die man mit einer Zeitmaschine einstreichen konnte, machte dann noch zwei kurze Zeitreisen und staunte dann über die Nullen auf ihrem Konto. Dann ging sie erst einmal feiern. In ihre Lieblingsdisco. Es gab eine neue Türsteherin, die Claudia nicht erkannte. Sie sagte allerdings: "Deine Schwester ist schon drin", was Claudia etwas verwirrte.
Sie betrat die Discothek, bestellte sich etwas zu trinken, ging zur Tanzfläche... und sah sich selbst. Eine etwas ältere Version von sich selbst, aber es war ja auch drei Jahre später. Die ältere Version lächelte ihr zu. Sie tanzten eine Weile zusammen. Die Musik war zu laut, um sich zu unterhalten, also holten sie sich nach einer Weile noch ein paar Drinks und gingen nach draußen.
Dort angekommen, fragte Claudia ihr älteres Selbst aus.
"Wie kann es uns denn zweimal geben?"
"Du vergisst dieses Ding an Deinem Handgelenk. Ich hab auch eine. Ich bin älter als Du. Du wirst in den nächsten drei Jahren einiges erleben. Ich sage nicht zuviel, weil ich damals von mir auch nicht mehr erfahren habe, aber es wird eine schöne Zeit. Und eines Tages wirst Du dann zu mir und reist hierhin zurück."
"Hmmm.,, Ich habe so eine Uhr. Du hast auch eine."
"Dieselbe."
"Funktioniert das auch mit anderen Sachen? Könnte ich einen Goldbarren, den ich hätte, zwei Minuten in die Vergangenheit schicken und hätte dann zwei? Weil... das könnte man ja eigentlich ewig machen und hätte unendlich viele Goldbarren, oder?"
"Nein. Du hättest zwei. Aber nur bis zu dem Moment, in dem der Goldbarren in die Vergangenheit reist. Denn wenn er das nicht tut, wäre es ja immer nur einer gewesen. Er muss zurückreisen. Aber weil nur einer zurückreist, werden es nie mehr als zwei."
"Verstehe ich nicht. Wieso können denn nicht einfach beide zurückreisen? Wären es dann nicht vier?"
"Aber wie lange denn? Die zwei anderen müssten ja doch wieder zurück, damit es überhaupt vier werden können. Und einer muss zurück, damit es überhaupt zwei werden können. Sicher, vorübergehend kannst Du Dir so theoretisch viertausend Goldbarren oder mehr zusammenzeitreisen. Aber so oder so, am Ende bleibt immer nur einer übrig. Du kannst nichts dauerhaft vervielfältigen."
"Hmmm... Ich schätze, das macht Sinn. Schade. Ich hätte gerne uns zwei dauerhaft vervielfältigt."
"Wenn Dir vorübergehend reicht..."
"Kann ich Dich überhaupt berühren? Ich hatte mal einen Film gesehen, in dem die gleiche Materie nicht zweimal den gleichen Raum beanspruchen kann."
"Aber es ist doch nicht die gleiche Materie. Weißt Du, wieviele Hautteilchen Du jeden Tag verlierst? Wieviele Zellen Dein Körper abstößt? Die alle werden ersetzt. Wenn ich Dich berühre..."
Die ältere Claudia berührte die jüngere an der Wange.
"...dann passiert nichts. Da sprühen keine Funken."
Die jüngere Claudia war anderer Meinung. Im Moment passierte eine Menge. Und ob da Funken sprühten. Und die beiden Claudias küssten sich.
Die Türsteherin kam zufällig vorbei und schüttelte angewidert den Kopf.
"Es ist okay, das ist kein Inzest. Wir sind überhaupt keine Schwestern," erwiderte Claudia lächelnd.
Die beiden zogen zusammen. Sie lebten von den Zinsen auf dem Sparkonto, das die jüngere in der Vergangenheit eröffnet hatte. Claudias Exfreundinnen hatten Recht. Sie liebte sich selbst. Doch diese Liebe war ein duplizierter Goldbarren auf Zeit. Sie war nur vorübergehend. Irgendwann musste die jüngere Claudia in der Zeit zurückreisen, um die ältere Claudia zu werden, sonst könnte es diese Liebe nie geben. Je länger sie warteten, desto nachdenklicher wurden beide Claudias. Was würde passieren, wenn die jüngere nicht zurückreiste? Konnte man es wagen? Oder würde sich die ältere automatisch auflösen, retroaktiv aus der Zeit ausgelöscht? Nein, besser nur drei Jahre gehabt und dann verloren zu haben, als nie geliebt zu haben. Und schweren Herzens drehte die jüngere Claudia an ihrer Armbanduhr - und verschwand in die Vergangenheit. Ihr fiel der Abschied leichter. Sie hatte ja noch drei Jahre mit der Liebe ihres Lebens vor sich. Die Ältere hingegen nahm es bedeutend schwerer. Aber... auch sie hatte doch noch ihre Armbanduhr... Und kurz, nachdem ihr die Lösung einfiel, erschien sie auch schon: Eine dritte Claudia, aus dem Jahre 2028, die die gleiche wie die beiden anderen war - und doch eine andere. Älter. Erfahrener. Reifer. Eine, die bereits eine ältere Version von sich selbst neunzehn Jahre lang begleitet, geliebt und gepflegt hat, bis zu deren Tod. Und jetzt würde sie selbst gepflegt. Begleitet. Geliebt. Bis zu ihrem Tod. Eine schöne Vorstellung.
Und die ältere Claudia legte ihre Armbanduhr ab und legte sie auf die Straße. Sie brauchte sie jetzt nicht mehr. Möge sie jemand anderem Glück bringen.
Sie hatte ihres schon gefunden.

28. August 2009

Acedia

Kurzes Intro: Das S.I.N. in Berlin hat im Moment arge finanzielle Probleme. Was verdammt schade ist, weil es eine verdammt geniale Location an der Grenze zwischen Neukölln und Kreuzberg ist, in der ich unter anderem beim ersten Anti-Slam mitmachen durfte. Und um den Laden zu retten, hat Paul Salamone für heute abend den "Save the S.I.N." Abend organisiert, bei dem Autoren, Sänger und andere Kleinkünstler gratis auftreten. Unter anderem bin ich auch dabei. Und weil das ganze ein Themenabend zu den Sieben Todsünden ist, habe ich dazu eine kleine Geschichte geschrieben.



Und Gott sprach: ES WERDE LICHT. Und es ward Licht. Und die, auf die dieses Licht fiel, waren verärgert und wuselten herum auf der Suche nach Deckung. Aber es gab keine Deckung, denn Bäume, Felsen, Tiere, all das war noch nicht erschaffen. Und sie sahen auf ins Licht, und sie verfluchten Seinen Namen. Und er nahm sie und sperrte sie in eine Büchse. Sie, die sieben Schwestern. Einst waren sie Nymphen: Superbia, die Schönheit. Luxuria, die Geborgenheit. Ira, das Temperament. Gula, der Genuss. Die Zwillinge Avaritia, Ehrgeiz, und Invidia, Wettstreit. Und Acedia, die Bescheidenheit.

Aber der Fall hatte sie verändert. Schönheit wurde Eitelkeit, Geborgenheit wurde Verlangen, Temperament wurde Zorn, Genuss wurde Maßlosigkeit, Ehrgeiz wurde Gier, Wettstreit wurde Missgunst. Und Bescheidenheit? Bescheidenheit blieb Bescheiden. Sie wollte damals sowieso nicht bei dieser Rebellion mitmachen, aber ihre Schwestern hatten sie mitgeschleift, es sei zu ihrem Besten. Von wegen. Und so saß Acedia nun mit im Gefängnis und litt. Ira regte ihren Zorn an ihr ab. Gula nahm ihr das Essen weg, Avaritia und Invidia alles andere. Was Luxuria mit ihr anstellte, wollt ihr gar nicht wissen.

Aber dann kam der Tag, an dem Pandora die Büchse öffnete und das Unheil über die Welt brachte. Im Laufe der Jahrtausende waren die Nymphen zu Sirenen ausgewachsen, und davon zogen jetzt sechs los um die Welt zu unterjochen. Bloß eine blieb freiwillig in der Büchse zurück. Acedia. Die Bescheidene. Sie hatte ja alles, was sie brauchte. Was sollte sie in der Welt der Sterblichen?

Doch dann kam Er. „WO SIND DEINE SCHWESTERN?“
„Bin ich meiner Schwestern Hüter? Ich weiß auch nicht, die sind halt weg. Jetzt hab ich endlich meine Ruhe.“
„DU WILLST DEINE RUHE?“
Er packte sie zwischen Daumen und Zeigefinger, holte sie aus der Büchse und sprach: „SPERR DEINE SCHWESTERN WIEDER EIN, DANN HAST DU RUHE.“

Und so zog Acedia los, um ihre Schwestern zu finden. Die erste war nicht zu übersehen. Superbia, die Eitle. Sie hatte sich einen Tempel bauen lassen, wo ihrer Schönheit gehuldigt wurde. Und sie schminkte sich. Und sie frisierte sich. Und sie erbrach sich. Und sie ließ unzählige Modedesigner Kleider für sie entwerfen.

Und Acedia sprach: „Warum die Mühe? Wärst Du nicht auch ohne Schminke, ohne Haarspray, ohne Pfauenfeder und ohne all diese Kleider die Schönste auf der Welt? Wenn Du mich fragst, ist der ganze Aufwand hier nur Zeitverschwendung.“

Superbia antwortete: „Aber wenn ich mir diese Arbeit nicht mache, macht sie sich vielleicht eine andere, und dann bin ich nicht mehr die Schönste auf der W... Moment, Du hast Recht, Schwesterherz. Das geht ja gar nicht. Nichts ist schöner als ich.“

Acedia erwiderte: „In diesem Gefäß ist das einzige, was schöner ist als Du. Wenn Du das vernichtest, dann bist Du auf ewig die Schönste und brauchst Dir gar keine Mühe mehr zu machen.“

„Was?“ fragte Superbia. „Schöner als ich? Nichts ist schöner als ich! Lass sehen!“ Und sie sprang in die Büchse. Und es stimmte. Nichts war schöner als sie. Und in der Büchse war... Nichts.

Acedia schloss die Büchse und lächelte. Dann zog sie weiter.


Die zweite Schwester war Luxuria, die Lüsterne. Auch sie hatte sich einen Tempel bauen lassen, in dem sie angebetet wurde. Und sie mühte sich tagaus, tagein ab, neue Reize, neue Kicks zu finden. Männer, Frauen, Greise, Kinder, Tiere, Pflanzen, vibrierende kleine Apparate in allen Formen und Farben.

Und Acedia sprach: „Warum die Mühe? Warum suchst Du Dir einen sterblichen Partner nach dem anderen? Würde es nicht reichen, bis ans Ende aller Tage mit dem schönsten aller Wesen zusammen zu sein? Wenn Du mich fragst, ist der ganze Aufwand hier nur Zeitverschwendung.“

Luxuria antwortete: „Du hast Recht, Schwesterherz. Für mich ist das Beste gut genug. Und wenn ich das Beste habe, brauche ich mir die Mühe hier gar nicht mehr zu machen. Du hast das schönste Wesen da drin? Lass sehen!“

Und sie sprang in die Büchse. Und es stimmte. Nichts war schöner als Superbia.

Acedia schloss die Büchse und lächelte. Dann zog sie weiter.

Die dritte Schwester war Ira, die Zornige. Sie hatte sich keinen Tempel bauen lassen, sondern ließ Tempel zerstören. Auf ihren Befehl hin legten ganze Armeen alles in Schutt und Asche und wandten sich dann gegeneinander.

Und Acedia sprach: „Warum die Mühe? Warum machst Du Dir die Arbeit, all die Sterblichen Geschöpfe zu bestrafen? Wäre es nicht weniger Arbeit, Dir einen Unsterblichen zu suchen? Einen, den Du in alle Ewigkeit bestrafen kannst? Hier in der Büchse habe ich gleich zwei, und eine davon könnte Deine Strafen vielleicht sogar genießen. Und die andere? Die nicht.“ :)

Ira antwortete: „Du hast Recht, Schwesterherz. Wenn ich Unsterbliche bestrafen kann, brauche ich mir die Mühe hier gar nicht mehr zu machen. Und die hast Du da drin? Lass sehen!“

Und sie sprang in die Büchse. Und es stimmte. Luxuria genoss Iras Peitschenhiebe. Superbia... nicht.

Acedia schloss die Büchse und lächelte. Dann zog sie weiter.

Und sie lockte Gula in die Büchse mit dem Versprechen, darin den größten Genuss zu erleben. Wozu sich die Mühe machen und nach anderen Genüssen suchen?

Und sie lockte Avaritia in die Büchse mit dem Versprechen, darin das wertvollste Gut zu finden. Und darin war: Familie.

Und sie lockte Invidia in die Büchse mit dem Versprechen, dass Avaritia darin das wertvollste Gut besäße.

Und so war Acedia endlich wieder alleine und hatte ihre Ruhe. Doch ihre Reisen, ihre Abenteuer, hatten sie verändert. Sie war nicht mehr länger die Bescheidenheit. Nein, Acedia war die Faulheit geworden. Sie dachte kurz darüber nach, die Welt zu unterjochen, aber es war zuviel Aufwand. Aber dann passierte etwas unvorhergesehenes: Ohne die anderen Schwestern hatten die Menschen keine Sünden, aber auch keine Motivation mehr. Ohne das Verlangen, der Schönste zu sein, ohne Lust, ohne Zorn, ohne Hunger, ohne Gier, ohne Neid blieb den Menschen gar nichts anderes übrig als nichts zu tun. Und Faulheit regierte die Welt.

Und Gott sah, dass es gut war.

12. Juni 2009

Youtube

Nein, kein Gedicht oder Text über Youtube. Stattdessen ein Video bei Youtube vom Poetry Slam in Moers, bei dem ich Ende Mai "Der Geist" gelesen habe. Gefilmt hat Sara Kritzler.

24. Mai 2009

001 100 011

Ja, ich weiß, ich sollte diesen Blog häufiger aktualisieren. Aber ich komme im Moment zu nichts. Wenn ich nicht arbeite, bin ich auf Slams unterwegs (zuletzt bin ich in Berlin bei einem Slam mit "Wie sehr ich Dich mag" herausgeflogen, weil ich laut der Moderatorin darin Männer zu Vergewaltigung animieren soll, ich alter verkappter Frauenhasser...) oder treibe anderweitig meine Mitmenschen in den Wahnsinn. Aber egal. Hier ist ein neuer Text, extra für den heutigen Abend geschrieben, die Stadtmeisterschaft in Bonn, wo ich mich nicht für die diesjährigen Deutschsprachigen Meisterschaften qualifizieren werde, weil die Kollegen Slammer mal wieder deutlich besser sind. Aber egal. Der Titel ist Binär, denn ein bisschen binär schadet nie sehr.

Ach so, und das ganze ist als Rap-Text gedacht. Die 001 100 011-Zeilen muss man sich als Chant vorstellen, der vom Publikum möglichst die ganze Zeit über als Rhythmus durchgehalten wird. Vier-Viertel-Takt, also quasi 001**100011*****. Aber gut jetzt, ich will Euch ja nicht ewig mit langweiligem Intro langweilen.

001 100 011

001 100 011
001 100 011
001 100 011
001 100 011

Auf der letzten Lan-Party ha'm wir ziemlich lang gezockt,
haben von morgens früh um acht bis in die Nacht um vier gerockt,
die ander'n schliefen, ich blieb wach, Red Bull hat meinen Schlaf geblockt,
und was ich dann gesehen hab, hat mich geschockt:
Die Computer war'n noch immer angedockt, immer noch vernetzt.
Ich war entsetzt: Die Rechner hatten Sex! Ehrlich, jetzt,
da tanzten Laptops topless Lapdance
zu Rap-Bands auf den Ipods von Mac-Fans.
Ich sah Sticks in USB-Slots von USB-Sluts,
vier in einer drin - und da war noch mehr Platz
in dem USB-Bus auf der Datenautobahn
ungeschützter Verkehr ganz ohne Virenprogramm

001 100 011
001 100 011
001 100 011
001 100 011

Der nächste Akt der Hardcore-Hardware-Show
war Prozessorfellatio:
Der Lüfter blies fies, aber was ich dann entdeckte -
die Wasserkühlung leckte.
Zwei alte Commodore, die machten langsam schlapp,
sie fuhren hoch - und stürzten dann zusammen ab,
die Vista-Kiste daneben hatte noch einiges vor,
sie flirtete mit dem schärfsten HD-Monitor,
sie verlor ganz entspannt und elegant ihr Gehäuse,
ganz am Rand klickten um den Verstand sich zwei Mäuse,
während die Vista-Kiste weiterstrippte.
Und dabei Pornofilme rippte.

001 100 011
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001 100 011
001 100 011

Den Notfall bemerkte ich, weil Modems sich was zuschrien,
ein 386er hatte einen Bluescreen.
Er war zu alt - und als es ihn gepackt hat,
hat er sich mit Viagra übertaktet.
Das war zuviel für sein Motherboard, es qualmte und es stank,
seine Festplatte wurde gerettet, Zuse sei dank.
Silicon Ally gebar ein Netbook, einen Sohn
und der Alte lebte weiter dank Reset-inkarnation.

Ich wurde wach, was für ein Graus, wer denkt sich solche Träume aus?
Ich war nie auf 'ner Lan-Party, und ich mach mir auch nichts draus.
Aber wenn ich d'rüber nachdenke, dieser geile Chor,
der geht mir seitdem nicht mehr aus dem Ohr.

Und der ging 001 100 011...

An der Stelle kann dann das Publikum weitermachen, bis es keine Lust mehr hat. :)

21. März 2009

Glaubenskrise

Und der zweite SF-Text für den Slam heute abend.

Glaubenskrise

Bruder Benedikt war zwar gläubig, aber nicht dumm. Er wusste, dass die Welt nicht in sieben Tagen entstanden war. Er wusste, dass der Mensch nicht aus Lehm geformt wurde, sondern die Evolution den Homo Sapiens vom Einzeller über den Mehrzeller, über den Quastenflosser, die ersten Säugetiere und so weiter entwickelt hatte. Aber das hieß ja nicht, dass Gott nicht dahinter steckte. Immerhin gab es in der Evolution ja enorme Sprünge. Der am besten angepasste Organismus gibt sein Erbmaterial weiter. Aber wer, wenn nicht Gott, sorgte denn dafür, dass einzelne Organismen plötzlich besser angepasst waren? Dass sich so hochkomplizierte Gebilde wie ein Auge oder der Gleichgewichtssinn über zahllose Generationen hinweg entwickeln, lange bevor sie funktionieren und der Träger der jeweiligen Gene einen Vorteil durch sie erlangt? Wer, wenn nicht Gott, hat uns denn die Fähigkeit gegeben, miteinander zu kommunizieren und unser Wissen auszutauschen? War die Seele Teil der natürlichen Selektion?

Nein, für Bruder Benedikt war eins klar: Auch wenn die frühen Kapitel der Bibel teilweise eher metaphorisch aufzufassen sind und mit den begrenzten wissenschaftlichen Mitteln der damaligen Zeit Antworten auf Fragen nach der Entstehung der Erde oder der einzelnen Arten bieten sollten, so zweifelte er nicht an der Wahrheit der späteren Bücher der Bibel. Er glaubte, dass Gott Moses half, sein Volk aus der Sklaverei in Ägypten zu befreien und zum gelobten Land zu führen. Dass er zu Jonas, Jeremiah und Jesaja sprach. Dass er sich selbst als seinen Sohn zu uns schickte und opferte, um die Sünden der Menschen auf sich zu nehmen. Auch wenn Gott uns nicht wie einen Golem aus Ton formte, oder aus einer Rippe, so sind wir doch seine Kinder, nach seinem Bild erschaffen. Die Krone der Schöpfung.

Man kann sich also Bruder Benedikts Verwunderung vorstellen, als er eines Tages im Klostergarten ein metallenes Ei von der Größe eines Kleinwagens fand. Es war glatt und völlig gleichmäßig, Benedikt konnte keine Spalten, Scharniere oder Schrauben erkennen. Und doch teilte es sich in zwei Hälften wie eine Kinderüberraschung, als Benedikt vorsichtig näher kam. Der Inhalt des Objektes machte es nicht besser: Ein Lebewesen mit großem, halb durchsichtigen Kopf und zahllosen kleinen Tentakeln wie eine Qualle. Es hatte drei riesige Augen, gleichmäßig um den Kopf herum verteilt, und blinzelte ihn an. Auf der Ei-Innenseite leuchteten diverse Lichter und Bildschirme.

Bruder Benedikt blieb stehen. Er legte vorsichtig seinen Rechen zu Boden, damit das Wesen diesen nicht für eine Waffe hielt. Dann machte er das Kreuzzeichen, räusperte er sich und wandte das Wort an sein groteskes Gegenüber.

"Kannst Du mich verstehen?"

Das Wesen reagierte nicht, blinzelte ihn bloß weiter an. Dann streckte es seine Tentakel aus und berührte damit unterschiedliche Schaltflächen.

"Mein Name ist Benedikt. Wer bist Du, und wo kommst Du her?"

Es brauchte noch ein paar Minuten, bis das Raumschiff genügend Sprachdaten von Benedikt gesammelt hatte, um rudimentär dolmetschen zu können. Dazu wandelte es Benedikts Fragen in Farben um, die einer der Monitoren anzeigte. Das quallenartige Wesen antwortete, indem sein Kopf in unterschiedlichen Farbtönen leuchtete, was das Schiff wiederum in für Benedikt verständliche Sprache umwandelte.

NAME IST [unübersetzbar]. KOMME VON PLANET [unübersetzbar]. KOMME IN FRIEDEN. TEIL EINER GRUPPE WISSENSCHAFTLER. ZIEL NEUE PLANETEN FINDEN. DENN [unübersetzbar] ÜBERBEVÖLKERT. TELESKOP SAH DEINEN PLANET. EIN GROSSES LAND, REST WASSER, MÜSSEN NICHT [unübersetzbar]FORMEN. 300 MILLIONEN LICHTJAHRE MIT RAUMKRÜMMUNG ÜBERBRÜCKT. PLANET SIEHT AUS NÄHE UNERWARTET AUS.

Benedikt überlegte.
"Wenn Dein Planet 300 Millionen Lichtjahre entfernt ist, dann haben Eure Teleskope 300 Millionen Jahre alte Bilder eingefangen. Das war ja noch vor den Sauriern!"

VERÄNDERUNGEN MIT EINGERECHNET, AUSMASS HAT TROTZDEM ÜBERRASCHT. KEIN ANDERER BEKANNTER PLANET HAT SICH SO SCHNELL ENTWICKELT WIE… ERDE. ERDENSPEZIES MACHT SCHRITTE INS ALL. HINTERLASSEN DABEI SCHROTT. ALTE TREIBSTOFFTANKS, SATELLITEN… BEI WIEDEREINTRITT AUS HYPERRAUM WURDE DAVON SCHIFF BESCHÄDIGT. KONNTE MIT RETTUNGSKAPSEL MEIN LEBEN RETTEN. BRAUCHE HILFE. BRAUCHE WASSER.

Benedikt griff nach der Gießkanne und lief zum Klosterteich. Dort angekommen, füllte er die Kanne mit Wasser und machte sich auf den Rückweg. Erst jetzt erholte er sich langsam von seinem Schock und zählte zwei und zwei zusammen. Ein außerirdisches Lebewesen. Ein Wesen von einem anderen Planeten, mit Bewusstsein, mit der Fähigkeit zu kommunizieren. Und technisch weitaus fortgeschrittener als Menschen. Aber wie kann das sein? Hatte Gott uns nicht nach seinem Ebenbild erschaffen? Sind wir nicht seine geliebten Kinder? Aber wer waren denn dann die? Und davon mal abgesehen: Was wird denn passieren, wenn es bekannt wird, was hier im Klostergarten gelandet ist?
Dies war eine zynische Welt, und es gab kaum noch Menschen, die an Gottes Liebe glaubten. Im Vatikan wurden schwer nachvollziehbare Entscheidungen getroffen. Wenn jetzt bekannt würde, was Bruder Benedikt hier gefunden hat, gäbe es erst recht eine weltweite Glaubenskrise. Die Bibel erwähnt kein Leben auf anderen Planeten, also würde die breite Masse vermutlich einen Widerspruch sehen. Und in der aktuellen Zeit könnte das ein Widerspruch zuviel sein. Er musste den Außerirdischen irgendwie loswerden, bevor ein anderer Bruder ihn fand und womöglich die Medien verständigte.
Er holte eine Bibel aus seinem Habit und schlug wahllos eine Stelle auf. Eine liebgewonnene Gewohnheit in Situationen, in denen Benedikt nicht weiterwusste.

Psalm 139, 19 bis 22
19Ach Gott, dass du den Gottlosen tötetest und die Blutgierigen von mir weichen müssten! 20Denn sie empören sich arglistig wider dich; deine Feinde erheben ihre Hand zur Lüge. 21Sollte ich nicht hassen, die dich, HERR, hassen, und keinen Abscheu empfinden vor deinen Widersachern? 22Ich hasse sie mit vollkommenem Hass, sie sind mir zu Feinden geworden.

Wie konnte dieses groteske Geschöpf ein Werk Gottes sein?
Er leerte die Gießkanne auf dem Rasen. Dann ging er zu dem kleinen Schuppen, in dem in den Wintermonaten der Grill gelagert wurde, um das Wasser in der Kanne mit flüssigem Grillanzünder zu ersetzen. "Du sollst nicht töten" bezog sich auf Menschen, nicht auf Tiere, folglich auch nicht auf dreiäugige Quallen aus dem Weltall.
Er sprach noch ein Gebet und ging zurück zum Raumschiff. Mit Tränen in den Augen übergoss er das Wesen mit dem Inhalt der Kanne. Er wollte es nicht tun, aber es war der einzige Weg. Das Wesen leuchtete in den kräftigsten Farben.

NEIN. NICHT. [Unübersetzbar], HILFE!

Benedikt griff nach der Spitzhacke und erschlug den Besucher. Dieser blinkte noch einmal in den lautesten Farben auf und wurde dann langsam blass. Der Bordcomputer übersetzte sein Todesröcheln:

GLAUBE AN [Unübersetzbar], VATER, ALLMÄCHTIG. SCHÖPFER VON HIMMEL UND [Unübersetzbar]. UND AN [Unübersetzbar], SEINEN EINGEBORENEN SOHN, UNSEREN HERRN…

16. März 2009

Zwischen den Zeilen

Am 21.03. ist in Dortmund ein Poetry-Slam mit dem Thema "Science-Fiction". Und weil sich mein Umzug nach Berlin (voraussichtlich für insgesamt ein halbes Jahr oder so) noch ein bisschen verschiebt, werde ich da wohl antreten. Also habe ich zu dem Thema eine Kurzgeschichte geschrieben. Das aktuelle Hauptproblem ist, dass die Geschichte noch ein wenig lang ist. Mal sehen, vielleicht lässt die sich ja in zwei Hälften splitten. Egal, hier erst einmal die Rohversion:


Zwischen den Zeilen

Als Dominik Rakers auf dem Heimweg vom Schützenverein diese Uhr fand, ahnte er noch nicht, dass sie sein komplettes Leben verändern, ja, sogar letztlich beenden würde. Es war eine etwas altmodische Uhr, allem Anschein nach in den achtziger Jahren entstanden. Ein überdurchschnittlich großes Zifferblatt, ein Armband aus billigem Metall, und ein Ring um das Ziffernblatt herum, der Tauchern für gewöhnlich anzeigen soll, wie lange sie unter Wasser sind. Dominik hätte die Uhr besser liegenlassen, oder besser noch, zerstören sollen. Aber unwissend wie er war, hielt er den Fund für einen Glücksfall. Mit einem stolzen Grinsen band er sie um sein Handgelenk und hielt dieses an sein Ohr. Die Uhr tickte leise, aber regelmäßig. Dominik ging pfeifend nach Hause.

Im Flur glich er die Uhrzeit mit der auf seiner Funkwanduhr ab. Sie stimmte auf die Sekunde. Dominik ging in die Küche und setzte einen Topf mit Wasser für Spaghetti auf den Herd. Er stellte die Küchenuhr auf sechs Minuten, ging ins Wohnzimmer und nahm auf der Couch Platz. Erneut fiel sein Blick auf seine neue Armbanduhr. Eigentlich ein hässliches Ding, aber einem geschenkten Gaul schaut man ja nicht ins Maul. Seine Finger fanden den Weg zu diesem Ring auf der Uhr. Etwas geistesabwesend drehte er ihn ein Stück im Uhrzeigersinn. Durch den Gestank, der plötzlich aus der Küche drang, fiel ihm nicht auf, dass die Zeiger der Uhr ihre Karussellfahrt beschleunigten, oder dass der Ring wie durch eine Feder wieder auf die Ausgangsposition zurückschnappte.

Er raste in die Küche, der Nudeltopf war leer, vom Boden stieg ein beißender Rauch auf. Wie konnte das Wasser so schnell verkochen, er war doch keine zwei Minuten nebenan? Die Küchenuhr stand wieder auf Null und hatte doch nicht geklingelt… Er sah auf die Armbanduhr – er hatte eine dreiviertel Stunde verloren. Dominik nahm den Herd vom Topf, stellte ihn in die Spüle und drehte das heiße Wasser auf. Es zischte und qualmte. Der Topf war nicht mehr zu retten. Merkwürdig. Er schaltete den Herd aus und den Fernseher ein. Der Lotto-Jackpot war geknackt, aber der Gewinner hatte sich noch immer nicht gemeldet.

In der Nacht schlief Dominik nur schlecht, der Geruch des angebrannten Topfes hing immer noch in der Luft. Am nächsten Morgen überhörte er den Wecker und verließ das Haus eine halbe Stunde zu spät. Er eilte zur Bushaltestelle, blieb aber mit dem linken Arm an der Haustür hängen. Mit der rechten Hand befreite er die linke und merkte dabei gar nicht, dass er dabei wieder an den Ring seiner Uhr griff und diesen ein kleines Stück gegen den Uhrzeigersinn drehte. Auch nahm er nicht die Person wahr, die hinter dem Auto seines Nachbarn hockte und ihn beobachtete.

Erneut schnappte der Ring unbemerkt zurück, erneut drehten sich die Zeiger – diesmal verkehrt herum. Dominik erreichte die Bushaltestelle und sah auf die Uhr. Er war zwei Stunden zu früh dran. War die Armbanduhr jetzt doch kaputt? Nein, ein Blick auf die Handyuhr bestätigte die Zeit. Ebenso die Kirchturmuhr auf der anderen Straßenseite. Dominik ging etwas ratlos zurück nach Hause, jetzt war ja doch noch Zeit für ein längeres Frühstück. Doch aus dem Schlafzimmer hörte er ein Schnarchen. Auf Zehenspitzen schlich er hinein, aber dort im Bett – lag er selbst. Er versuchte, sein schlafendes Ich zu wecken, aber ohne Erfolg.

Der wache Dominik schaltete den Wecker aus und setzte sich neben das Bett, um abzuwarten, was passiert. Doch er verlor die Geduld und ging in die Küche, um sich einen Apfel zu holen. Als er zurückkam, war das Bett leer, dafür drang das Geräusch von fließendem Wasser aus dem Bad. Dominik biss in den Apfel und verließ die Wohnung. Er wollte eine direkte Konfrontation jetzt doch vermeiden und sich zunächst einmal weiter beobachten. Das ganze war doch bestimmt sowieso ein Traum, und da sind solche plötzlichen Sinneswandel doch ganz normal.

Er duckte sich hinter das Auto vor der Wohnungstür und wartete. Siehe da, der andere Dominik verließ das Haus – und blieb mit dem Ärmel in der Haustür hängen. Déjà Vu. Dominik 1 beobachtete, wie Dominik 2 an sein Handgelenk fasste und dabei an der Uhr drehte – und verschwand. Dominik rechnete zwei und zwei zusammen: Er war jetzt doch wieder zu spät zur Arbeit. Es sei denn… Er sah auf seine Uhr. Er nahm den nächsten Bus zum Büro. Dort angekommen, sah er seine Uhr an. Er spielte damit herum. Er drehte den Ring im Uhrzeigersinn. Die Zeiger rasten vorwärts, und es dämmerte im Zeitraffer. Dominik drehte den Ring zurück – und sah zu, wie sich die Zeiger rückwärts bewegten – und die Zeit gleich mit. Dominik war noch nie so pünktlich wie heute. Mit einem Lächeln auf den Lippen betrat er das Firmengebäude. Er begann, die Möglichkeiten zu erkennen, die ihm die Uhr bot. Nach Feierabend fuhr er nach Hause und spulte wieder zum Vormittag zurück. Mit der Uhr hatte er jetzt soviel Freizeit wie er wollte. Mal was anderes… Er drehte den Ring bis zum Anschlag nach vorne. Mal schauen, was die nächsten Jahre so passiert. Es wurde dunkel und wieder hell, dunkel, hell, immer und immer schneller. Irgendwann ließ er los und sah, wie der Ring zurückschnappte. Er sah von der Uhr auf – und in den Lauf einer futuristisch anmutenden Handfeuerwaffe. Sein Instinkt übernahm, und er entwaffnete den alten Mann, der ihm gegenüberstand, im Handumdrehen. Wortwörtlich. Er richtete die Waffe auf den Großvater. Doch der zog blitzschnell eine weitere Pistole und richtete sie auf Dominik. Dominik drückte ab, ein-, zweimal. Der alte Mann ging zu Boden. Auch er drückte ab, aber die Pistole klickte nur.

"Die Waffen – ich habe sie verwechselt. Aber wie…?" Blut lief aus seinem Mund, und er regte sich nicht mehr. Dominik sah sein Gegenüber genauer an. Dieses Muttermal auf der linken Wange kannte er doch. Das Bild, dass ihm täglich aus jedem Spiegel entgegensah, trug das gleiche auf der rechten.

Er zog dem alten Mann das Hemd hoch: Tatsächlich, die Narbe seiner Blinddarm-Operation. Er hatte gerade sich selbst getötet. Er sah sich um. Doch, das war immer noch seine Wohnung. Viel moderner und um einiges teurer eingerichtet, aber unverkennbar sein Stil. Er schaltete den riesigen Flatscreen-Fernseher ein, den er sich offenbar irgendwann kaufen würde und schaltete auf einen Sender mit Nachrichten. Laut dem Datum in der oberen rechten Ecke war er achtundvierzig Jahre in die Zukunft gereist. In achtundvierzig Jahren würde er sterben. Er griff an seine Uhr und reiste zurück. Immerhin hatte er jetzt achtundvierzig Jahre Zeit, seinen Tod zu verhindern.

Wieder zuhause, ging Dominik seine Optionen durch. Er musste die Zeit ändern. Aber kann man das überhaupt? Er wagte ein Experiment. Er spulte bis zum letzten Samstag zurück und betrat ein Lotto/Toto-Geschäft. Er schnappte sich einen Lottoschein und füllte ihn aus. Die Zahlen kannte er, denn die Ziehung in ein paar Stunden hatte er bereits vor ein paar Tagen gesehen. Die Quittung nahm er mit nach Hause. Jetzt müsste er sie nur noch so hinterlegen, dass sein jüngeres Ich sie findet. Er klebte den Zettel mit Tesafilm an seinen Badezimmerspiegel. Dann reiste er wieder zurück in die Gegenwart. Die Wohnung war unverändert. Er sah über das Internet nach seinem Kontostand. Im Minus, aber noch innerhalb seines Dispo-Rahmens. Sollten da nicht mehrere Millionen draufsein? Er ging zurück ins Badezimmer. Keine Quittung. Allerdings… war an der Stelle, an die er das Tesafilm geklebt hatte, nicht weniger Staub als darum herum? Er suchte das Badezimmer ab. Und siehe da: Unter dem Waschbecken fand er die Quittung. Der Kleber hatte scheinbar nicht gehalten, und der Zettel hatte sich abgelöst. Dadurch hatte sein jüngeres Ich ihn nicht gefunden. Aber… die Quittung war ja noch immer gültig. Er ging zum Lottoladen. Und gewann den Jackpot. 15 Millionen Euro. Und achtundvierzig Jahre Zeit zum Geldausgeben. Aber hatte er eigentlich etwas geändert? Schwer zu sagen. Vage fiel ihm die Nachrichtenmeldung vom Vorabend ein. Der Jackpot sei geknackt, der Gewinner habe sich aber noch nicht gemeldet. War er zu diesem Zeitpunkt bereits der Gewinner? Hatte er sich bloß nicht gemeldet, weil er die Quittung nicht auf dem Badezimmerfußboden gefunden hatte? Wenn er nicht zurückgereist wäre… hätte es dann überhaupt einen Jackpotgewinner gegeben? Er griff zu seiner Uhr und reiste wieder zu Samstag zurück, an einen Moment, kurz nachdem er die Quittung an den Spiegel geklebt hatte. Und siehe da: Sie war noch dort. Er zog sie ab und ging in die Küche, um sich einen anderen Ort dafür auszusuchen. Er klebte die Meldung an den Kühlschrank. Hier musste sie ins Auge fallen. Er drehte sich herum… und sah sich selbst. Okay, das ist der Beweis. Er konnte sich nicht daran erinnern, sich selbst in der Küche getroffen zu haben, also musste diese Szene neu sein.

"Bevor Du Dich erschrickst, keine Sorge. Ich bin Du. Du bist ich. Ich bin aus der Zukunft gekommen, um Dir diesen Lottoschein zu g…"

"Halt die Klappe, das weiß ich alles selber. Das Wir von jetzt gerade ist nicht zuhause. Und ich bin ein halbes Jahr älter als Du. Hör zu. Du kannst hier gerne noch ein bisschen rumprobieren, aber eines habe ich festgestellt. Wir können die Zeit nicht verändern. Was geschehen ist, ist geschehen, wir erinnern uns ja daran. Und die Zukunft, die wir uns ansehen, wird genauso passieren. Wenn Du versuchen würdest, Hitler als kleines Kind zu töten, würde es nicht funktionieren. Denn Hitler hätte jedes Attentat überlebt. Er wurde erwachsen, er wurde Reichskanzler und GröFaz und riss halb Europa ins Verderben. All das ist wirklich passiert und steht in den Geschichtsbüchern. Es gibt genügend Zeitzeugen von damals, die sich genau daran erinnern. Daran gibt es nichts zu rütteln. Wenn Du versuchst, ihn zu erschießen, würde Deine Waffe klemmen, oder die Patronen wären nicht in Ordnung. Du kannst die Geschichte nicht verändern. Denn von der Gegenwart aus ist sie ja bereits geschehen. Das bedeutet aber auch, dass alles, was Du bei einer Reise in die Vergangenheit tust, bereits geschehen ist. Und wenn man das ganze jetzt aus der Zukunft betrachtet, dann ist die Gegenwart bereits geschehen. Ändern kannst Du nur, woran sich niemand erinnern kann. Das, was zwischen den Zeilen der Geschichtsbücher steht. Wie der Lottogewinn. Es gab einen Gewinner, und das waren schon immer wir. Und der hat sich nicht gemeldet, weil wir es noch gar nicht wussten. Jeder Versuch, das zu verändern, wird scheitern. Denn hätten wir den Zettel vor der Uhr hier gefunden, dann würden wir zwei uns doch daran erinnern. Und würdest Du jetzt bis Montag springen und es dann versuchen, würde es auch nicht klappen. Vielleicht ist die Lottoannahmestelle geschlossen, oder Du würdest auf dem Weg dorthin von einem Auto angefahren und ins Krankenhaus gebracht, bis der Laden zu ist. Denn hätte ich den Zettel eingelöst, würden wir uns nicht an die Nachrichtenmeldung erinnern, der Gewinner habe sich noch nicht gemeldet."

"Aber… was ist denn dann mit freiem Willen?"

"Oh, Du kannst Dich entscheiden, wie Du willst. Aber Du kannst nur so wollen, wie es das Schicksal will."

"Schopenhauer. Der Mensch kann tun, was er will, aber nicht wollen, was er will."

"Korrekt. Mit anderen Worten: Du kannst nichts ändern, von dem Du weißt, das es bereits passiert ist. Du kannst die Lottoquittung nur zurück unter das Waschbecken legen, damit Du sie am nächsten Mittwoch finden konntest. Und in einem halben Jahr wirst Du ich sein und an diesen Punkt in der Zeit zurückkehren, um mit Deinem jüngeren Selbst diesen Dialog zu führen."

"Zeitreisegrammatik ist kompliziert. Aber was heißt das für unser Problem?"

"Alles, woran Du Dich erinnerst, ist bereits geschehen. Und das schließt eben leider auch den Teil der Zukunft ein, an den Du Dich erinnerst. Du hast also achtundvierzig Jahre Zeit, um 15 Millionen auszugeben. Aber sieh es positiv: Du weißt jetzt, wann Du stirbst. Das heißt auch, dass Du nicht vorher sterben kannst. Du gewinnst jede Runde Russisches Roulette. Du bist immun gegen alle tödlichen Krankheiten. Du wirst jeden Autounfall weitestgehend schadenfrei überleben."

"Weitestgehend?"

"Na ja, hast Du unser altes Ich auf irgendwelche Glasaugen, Beinprothesen oder so etwas untersucht?"

"Ich verstehe."

"Nein, noch nicht. Daran würde ich mich erinnern. Aber Du fängst langsam an, zu verstehen. Und in den kommenden Wochen und Monaten wirst Du immer mehr herausfinden, bis Du zu dem Wissensstand kommst, den ich habe."

"Hmmm… okay. Hey, solange wir noch hier sind… Lust auf eine Partie Schach? Du wärst endlich mal ein gleichwertiger Gegner."

"Nein, wäre ich nicht. Ich wüsste jeden Deiner Züge, weil ich ihn selbst schon gemacht hätte. Mach's gut."

Und der ältere Dominik drehte an seiner Uhr und verschwand.

Achtundvierzig Jahre später. Dominik hatte ein langes und erfülltes Leben. Er hatte noch noch ein paar Mal im Lotto gewonnen, immer kleinere Beträge, damit es nicht auffiel. Er hatte äußerst gewinnbringend am Aktienmarkt spekuliert und ein Vermögen gemacht. Jahrzehnte lang hatte er das Leben in vollen Zügen genossen, hatte mit Drogen und Frauen experimentiert und alle Extremsportarten durchprobiert, die es gab. Doch je näher es auf seinen Todestag zuging, desto mehr Angst hatte er vor dem Tod. Und er begann, sich zu fragen, warum er überhaupt mit den Pistolen herumhantiert hatte, beziehungsweise herumhantieren wird. Sein künftiges Ich hätte doch ebenfalls wissen müssen, dass er als junger Mann auf einer Zeitreise sich selbst in vermeintlicher Notwehr töten würde. Sein jüngeres Ich hätte er doch gar nicht töten können, sonst hätte es ihn selbst doch gar nicht gegeben. Und eines Tages kam ihm die Idee.

Er steckte die eine Pistole ein, und wartete, mit der anderen Pistole auf den Punkt in seinem Wohnzimmer zielend, an dem sein jüngeres Ich sich gleich materialisieren würde. Der junge Dominik erschien, den Blick auf seine Uhr gewandt. Er sah sein älteres Selbst an, unwissend, wer ihm da gegenüberstand. Der alte Dominik wehrte sich nicht, als der junge ihm die Waffe entriss. Er hatte einen Plan. Er griff nach der zweiten Waffe und drückte ab. Klick. Klick. Der Junge schoss.

Der Alte ging zu Boden: "Die Waffen – ich habe sie verwechselt. Aber wie…?"

Dann zerbiss er die Blutkapsel, die er in der Wange versteckt hatte.

Der Junge untersuchte sein künftiges Selbst flüchtig und verschwand. Der Alte nahm die "Tatwaffe", die der Junge fallengelassen hatte, und entnahm die restlichen Platzpatronen. Er lächelte. Natürlich hatte er die Waffen nicht verwechselt. Den Satz hat er nur gesagt, weil er ihn als junger Mann von sich selbst gehört hatte. Den Teil konnte er nicht verändern. Er hatte nur auf das Einfluss, woran er sich selbst nicht erinnerte. Er hatte die Waffe doch nie untersucht. Er hatte stets angenommen, dass scharfe Munition darin war, aber zweifelsfrei gewusst hatte er das nicht.

Der alte Dominik Rakers lachte. Er lachte laut auf, er war dem Tod von der Schippe gesprungen. Er hatte keinen Timer mehr, der ihm ständig seine eigene Sterblichkeit vor Augen hielt. All die Jahre hatte er umsonst Angst vor diesem Tag gehabt. Er lachte, wie er noch nie zuvor gelacht hatte.

Dann griff er sich ans Herz. An das von jahrzehntelangem Drogenkonsum und übermäßigem Adrenalin arg in Mitleidenschaft genommene Herz. Das Herz, das nun aufhörte, zu schlagen. Er hatte den Tod besiegt und seine Todeszeit herausgezögert. Um genau sechzehn Minuten.


21. Februar 2009

Valentinstag

Ja, ich weiß, ich bin spät dran. Verklagt mich doch. Oder spendiert mir 'ne eigene Internet-Flatrate. Geschrieben habe ich diesen Vierzeiler tatsächlich schon letzte Woche, vorgetragen habe ich ihn am Valentinstag selbst bei der Offenen Wunde von Christian Gottschalk, und damit ist diese Einleitung schon gefühlte fünf Mal so lange wie das Gedicht selbst. Mir egal.

Ich liebte sie, ich liebte sie, ich liebte sie so sehr.
Doch eines Tages sagte sie, sie liebte mich nicht mehr.
Ich wollte mich gleich töten, doch hab es nicht gemacht.
Das hätte sie zu sehr verletzt. Ich hab sie umgebracht.

Hmmm... Möglich, dass ich schon zu sehr in meiner Rolle drin war, die ich für Karneval einstudiert habe. Wer Interesse hat, dem gebe ich die Empfehlung, entweder am Rosenmontag um 20:00 zu Kunst gegen Bares ins Severins-Burg-Theater zu kommen oder am Veilchendienstag um 20:00 zu Reim in Flammen in den Tsunami-Club.

HahahaHaAhahahHaHaHAHHAHAHhHahaHahAHAHHAHaHaHaHaHaHAhaHaHahHHAHhahahahhahahaHaHAHaHaHaHAHAHAHAHAHhahaha

23. Januar 2009

Mindcheater

Hab jetzt endlich mal was auf Englisch geschrieben. Und nein, das Ding ist nicht autobiografisch, erst recht nicht, was die Freundin im Gedicht betrifft. Ist zwar auch 'ne Fernbeziehung, aber da hören die Parallelen dann auch auf. Nur damit keiner auf falsche Ideen kommt.

Mindcheater

I'm a mindcheater, not a wifebeater,
would you stop looking at me like that?
When I see nice ladies I want to make babies,
and I do it - but only in my head.

I'm a mindcheater, not a cheater,
I don't know if it's my imagination or libido.
When I see nice girls, it's something of a reflex,
but I'd never cheat on my girlfriend with real sex.

I don't know, I guess my brain just works that way.
It doesn't happen for a month, and then it happens every day.
I will admit: Sometimes I even get an erection,
but I always make sure it doesn't get any action.

I'm a mindcheater, not a wifebeater,
would you stop looking at me like that?
When I see nice ladies I want to make babies,
and I do it - but only in my head.

I've got a long-distance thing, and whenever I meet her,
I fear she will find out that I'm a mindcheater.
There's nothing I can do, the images are in my head,
what can I say, I'm a man and I'm not dead.

Last time I met my girlfriend, I had finally enough.
I confessed and I'll be honest: Yeah, it was kinda tough.
I dreaded the worst, but much to my surprise,
she said she does the same - well, she does it with guys.

She's a mindcheater, not a maneater,
would you stop looking at her like that?
When she sees nice guys she wants them between her thighs,
and she has the, - but only in her head.